Quoten und andere Idioten

■ Sie kam nach Bremen, um etwas ganz anderes zu machen als ihr legendärer Vorgänger Hans Kresnik. Jetzt wechselt die ruhmreiche Choreographin Susanne Linke nach Essen – mit ziemlich gemischten Gefühlen

Seltsames Bremen. Eine Stadt, umgeben von Pampa, die im Winter überschwemmt ist. Eine Stadt, in der sogar Flüsse bergauf fließen. Eine Stadt mit einer nur itzeklitzekleinen, also mickrigen und futzeligen freien Szene – jedenfalls im Theater und ganz besonders im Tanztheater.

Doch, o Wunder, einige der künstlerisch aktiven Leute bleiben. Oder kommen. Oder kommen wieder. Oder zögern ihren Abschied hinaus. Mögen gar nicht „Tschüss“ sagen, sondern sagen lieber „Auf Wiedersehen“. So wie Susanne Linke, die scheidende Leiterin des Bremer Tanztheaters, die in einer großen Gala am 15. Juli im Theater am Goetheplatz verabschiedet wird.

Jawohl, Susanne Linke scheidet, und scheiden tut bekanntlich weh. Genau genommen tut im Fall der 1944 in Lüneburg geborenen Choreographin nicht das Scheiden weh, sondern das Weggehen an ihren neuen Arbeitsplatz: Künstlerische Leiterin des neuen „Choreographischen Zentrums Zollverein“ in Essen soll sie werden. Denn auch eine Stadt wie Essen schmückt sich gern mit dem Namen Susanne Linke. Immerhin zählt sie zusammen mit Reinhild Hoffmann und der Überfigur Pina Bausch zur Crème de la crème des deutschen Tanztheaters. Doch in Essen hat Susanne Linke solch einen Schweineärger mit den Planern, dass man sie vor sich selbst schützen muss und nicht immer auf sie hört, wenn sie sagt: „Schreiben Sie das ruhig in die Zeitung!“ Bremen jedenfalls ist gegen Essen die reinste Wonne.

Dabei hat alles ganz anders angefangen. Als sie 1994 zusammen mit Urs Dietrich nach Bremen kam, um Nachfolgerin von Hans Kresnik zu werden, zeigte sich schnell: Nachfolgerin von Kresnik zu sein, ist nicht so leicht. Aber Susanne Linke hat von Anfang an mit offenen Karten gespielt.

Dass sie ein ganz anderes Tanztheater als Kresnik macht, hat sie gesagt. Eine Rückkehr des Tänzerischen, ja gar des reinen Tanzes hat sie auch angekündigt, als sie im Sommer 1994 zum ersten Mal Bremer JournalistInnen gegenübersaß. Und wer wollte, verstand, dass sie mit dem bilderwütigen Mann aus Kärnten nicht viel anfangen kann. Doch die meisten JournalistInnen hatten sich an Kresnik noch nicht satt gesehen und konnten zunächst kaum etwas mit Linkes Tanztheater anfangen. Holprige bis krude Verrisse waren die Begrüßung. Und noch viel wichtiger: Die Zuschauerzahlen stimmten nicht. Zunächst.

Der selbst noch ganz neue Intendant Klaus Pierwoß hatte nämlich viel, vielleicht zu viel vor mit dem neuen Tanztheater: Die Inszenierungen „Ruhr-Ort“, „Märkische Landschaft“ oder das Doppelstück „Das kalte Gloria“/„Also Egmont, bitte“ platzierte er im großen Haus am Goetheplatz mit seinen 954 Sitzen. Doch bei den Aufführungen blieben viele, manchmal sogar die meisten dieser Plätze leer. 200 oder gar 150 – meistens begeisterte – ZuschauerInnen ergeben unterm Strich eine miserable Auslastungszahl.

Also musste Susanne Linke ab dem dritten Jahr im Schauspielhaus choreographieren. Da stimmte dann die Quote, zumal das Interesse von Jahr zu Jahr größer wurde. Doch deutlich, wie sie ist, nennt Susanne Linke das Gerechne mit der Auslastung „idiotisch“, weil man so im 99-Plätze-Theater Concordia immer eine Superauslastung hat. Und radikal ist sie auch: „Im Schauspielhaus und selbst im viel gerühmten Concordia kann man doch kaum zwei Schritte machen, ohne gleich an eine Wand zu stoßen.“ Susanne Linke braucht Raum für ihre Choreographien. Und wenn sie ihn hat – wie bei den häufiger gewordenen Gastspielreisen – dann „erkenne ich meine eigenen Choreographien wieder“.

Nein, der Eindruck täuscht: Susanne Linke nölt nicht. Höchstens ein bisschen. Vielmehr hat sie in ihren Bremer Jahren etwas erlebt, womit sie nicht gerechnet hat. Ursprünglich hatte sie ihr erstes Engagement an einem Stadttheater auf drei Jahre veranschlagt. Jetzt sagt sie: „Ich wäre gerne länger geblieben.“ Das hat natürlich auch mit Essen und den Verantwortlichen im „Choreographischen Zentrum“ zu tun. Ihren Namen, sagt sie, wollen die Herren Funktionäre gern benutzen, doch entscheiden dürfen soll sie nichts. „Eine Unverschämtheit, das mache ich nicht mit“, sagt sie, doch dann schützen wir sie wieder vor sich selbst. Denn wie gesagt: Gegen Essen ist Bremen die reinste Wonne.

Mit einem immer weiter zusammenwachsenden Ensemble hat Susanne Linke in Bremen sechs Stücke choreographiert. Hinzu kamen anderswo einstudierte Choreographien wie die Koproduktion mit Reinhild Hoffmann namens „Über Kreuz“. Außerdem hat sie in Bremen Wiederaufnahmen ihres – na ja – Klassikers „Frauenballett“ von 1981 gezeigt und war, bereits 50-jährig, in ihrer Hommage an den Kollegen Gerhard Bohner, „Dialog I+II“, auch als Solistin zu sehen.

Es ist schwer, einen roten Faden durch ihre Bremer Jahre zu ziehen. Manche meinen, Linke sei mit der Zeit heiterer und ironischer geworden. An die Wiederaufnahme des mittel-düsteren „Frauenballetts“ knüpfte sie selbst die federleichte Persiflage auf Mode und Eitelkeiten namens „Heiße Luft“. Dann aber kam sie plötzlich mit „La Chute“ heraus. Diese an Seilen getanzte und hochdramatische Choreographie hält die in Berlin bei der legendären Mary Wigman und in Essen an der ebenso legendären Folkwang-Hochschule ausgebildete Tänzerin selbst für ihr gewagtes-tes Stück.

Es sind fast immer berührende Kompositionen über ein zweigesichtiges Alltagsleben: Hier die ironischen Attacken auf Oberflächlichkeiten, Gecken und Eitelkeiten; dort Szenen rund um die Zuneigung und den Kampf der Geschlechter, die bis an die Tragödie heranreichen – die ganz normale. Susanne Linke (oder war es Reinhild Hoffmann? Egal!) hat den Erfolg von Choreographinnen einmal damit erklärt, dass sie den Ballettschuh von der Bühne verbannt und dem Normalen und Alltäglichen im Tanztheater zu ihrem Recht verholfen hätten. So ist es kein Wunder, dass das Ensemble von Susanne Linke nicht im Können, sondern in der Statur der TänzerInnen völlig heterogen gewesen ist.

Ihrem ehemaligen Partner und Nachfolger Urs Dietrich, der das Ensemble jetzt zur Hälfte neu besetzt, gibt sie zwei Wünsche mit: dass er einsieht, dass das Leben (von TänzerInnen) nicht nur aus Arbeit besteht, und dass er den Sprung ans große Haus schafft.

Christoph Köster

Zum Abschied am 15. Juli um 19.30 Uhr wird der scheidenden Susanne Linke noch einmal der Wunsch nach dem Sprung ins große Haus erfüllt: In einer Abschiedsgala zeigt das Ensemble wohl zum letzten Mal die drei Choreographien „Frauenballett“, „Heiße Luft“ und „Also Egmont, bitte“ im Theater am Goetheplatz. Karten können reserviert werden unter Tel.: 365 33 33