Klagesucht der Authentischen

In Talkshows begehrt, im Erwerbsleben an den Rand gedrängt: Querulanten, auch als paranoide Streithammel bekannt. Das „Projekt Alltag“ im Haus der Demokratie will nun ihren Anliegen zum Durchbruch verhelfen. Gute Zeiten für Wanderenten, gottlose Heiratsanzeigen und Neuss-Wiedergänger

von HELMUT HÖGE

Konzernzentralen, Politiker, Fahrer, Lobbyisten, Anwälte, Agenten und Makler ziehen nach Berlin. Nun ist auch das aus dem Frankfurter Informationsdienst (ID) hervorgegangene Medien-„Projekt Alltag“ übergesiedelt – ins Haus der Demokratie in der Greifswalder Straße 4, Raum 119. Der dort tätige Sozialwissenschaftler Richard Herding „betreut“ u. a. Querulanten, das heißt er versucht, ihrem Anliegen über Öffentlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen, wobei das Projekt zwischen Meinungs- und Interessens-Querulanz unterscheidet. Nur die letzteren unterstützt man.

Vor kurzem berichtete Barbara Bollwahn in der taz über den wichtigen Berliner Prozessbeobachter und Urteilsschelter O. W.. Er besucht Gerichtsprozesse und kritisiert anschließend deren Wahrheitsfindung, aber die Justitz will einfach nicht auf ihn hören! Für den Berkeley-Absolventen Herding wäre das ein typischer Fall von Meinungs-Querulanz – auf beiden Seiten.

In der taz fand ich neulich neben dem Fotokopierer ein Buch aus dem kleinen Akademischen Heinz-Verlag: „Kultus und Spott“ von Erhard Jöst, einem Gymnasiallehrer und ehemaligen Juso-Aktivisten. 1980 hatte der Autor in seiner Heiratsanzeige ein Heine-Zitat verwendet, in dem geraten wird, auf den „Pfaffensegen“ für die Ehe zu verzichten. Jöst wurde daraufhin strafversetzt und erboste Gläubige errichteten sogar einen Grabstein für den linken Lehrer im Stadtpark. An seinem neuen Schulort verbreitete die Junge Union, Jöst empfehle seinen Schülern Fachliteratur aus „kommunistisch gesteuerten Verlagen“. Dem Spiegel verriet Jöst, „ein sicherlich falscher Freund“ habe ihm geraten, die Geburt seines ersten Sohnes nun ebenfalls mit einem Heine-Zitat anzuzeigen: „Die radikale Rotte / Weiß nichts von einem Gotte / Sie lassen nicht taufen ihre Brut / Die Weiber sind Gemeindegut.“

Immer wieder kommt es seinetwegen in der Folgezeit zu Kleinen Anfragen im Landesparlament. In einer Deutschlehrer-Fachzeitschrift schreibt Jöst über „Schwierigkeiten linker Lehrer“, die u. a. daher kommen, „dass sie ein Lebensprinzip verkörpern, das von Schülern dem Lebensbereich außerhalb der Schule zugeordnet wird: Toleranz, Freizügigkeit, Repressionslosigkeit, Lernen nach Interessen, Verarbeitung, Nichtverleugnung von Problemen“. Nach einigen veröffentlichten Satiren lässt das Schulamt Jöst überprüfen. Auch die SPD distanziert sich. Er wird zum zweiten Mal strafversetzt. Ausgerechnet diesen umtriebigen Volkspädagogen, der nebenbei noch viele politische Ämter innehat und eine riesige Veröffentlichungsliste im Anhang seines Buches „Kultus und Spott“, bezeichnet die Bild-Zeitung als „Deutschlands faulsten Lehrer“. Ganz sicher ist er jedoch ein Meinungs-Querulant!

Wie steht es aber nun mit dem Berliner Theaterschauspieler Torsten Ricardo Engelholz? 1966 geboren, wurde er von seinen Eltern während der Kindheit in eine dunkle Kammer eingesperrt und dann in die Psychiatrie gesteckt. Heute verbringt er einen Großteil seiner Freizeit mit U-Bahn-Fahren. Es könnte sich bei ihm um eine Art Wiedergeburt des späten Neuss handeln. Er sagt: „Wenn zwei Verliebte am Bahnsteig stehen, ruft der Schaffner: Verliebt bleiben bitte! Und wenn da welche verrückt sind, und so ein bisschen Graffiti machen, heißt es: Verrückt bleiben!“ Die Filmerin Elfi Mikesch hat daraus einen – gleichnamigen – Dokumentarfilm gemacht. Sein englischer Titel lautet: „Mind the Gap“. Er wird im Rahmen des rollenden Expo-Literatur-Express, nachdem dieser im Juli Berlin-Mitte erreicht hat, als einer von mehreren Zug-Filmen gezeigt: am 13. 7. im Arsenal Potsdamer Platz.

In der U-Bahn stieß ich neulich auf einen ungewöhnlich gut aussehenden strassenzeitungs-Verkäufer, der auch sehr gut verkaufte – und sich dann als Will-Frieden Sabelus-Frach herausstellte. Über den hat gerade Friederun Pleterski ein Buch geschrieben: „Vogelfrei“. Die Hauptperson darin, Willi, eben der Obdachlosen-Zeitungsverkäufer – floh in den Siebzigern aus der DDR, hatte hier zahlreiche Westbräute, kiffte über Gebühr, kellnerte – und kehrte dann in den Osten zurück, wo man ihn erst mal einsperrte. Willi wird darüber Christ, geht mit Elsa – seiner Ente – auf Wanderschaft, durchquert halb Europa. Zurückgekehrt, fängt er an, für das Neue Deutschland zu schreiben. Schließlich landet er auf einem Kärtner Bergbauernhof, wo er mit seinem Wollschwein Erna zusammenlebt. Wahrscheinlich vermischen sich bei ihm inzwischen Meinungs- und Interessens-Querulanz.

Im Zusammenhang mit dem in den letzten Jahren erweiterten „Beschwerderecht“ gibt es auch ein Anwachsen der juristischen Fachliteratur zum Thema „Querulanz“. Gleichzeitig kommen die Querulanten mehr und mehr in Talkshows zur Sprache, während sie jedoch im immer bugförmigeren Berliner Erwerbsleben langsam an den Rand gedrängt werden. Im taz-Alltag kann außer Barbara Bollwahn auch ich ihrem hartnäckigen Einzelkämpfertum noch am ehesten etwas abgewinnen – als Schüler des 68er-März-Verlegers Jörg Schröder, den Dr. Rainald Goetz einmal als „ultimativen Lehrer dieser Tugenden“ pries, weil er sich nicht scheue, sich – wenn es sein muss – auch als „paranoiden Streithammel mit dem Vollbild eines klassischen querulatorischen Syndroms“ zu gerieren. Dazu muss man wissen, dass seit 1968 „Klagesucht“ und individuelle Rebellion „als Form der Psychopathie“ in der Querulanz zusammenfallen – und zwar in Ost und West. Der Querulanten-Betreuer Richard Herding äußerte darüber einmal: „Das Krankheitsbild muss man zweimal lesen, weil es – genau wie bei dir und mir – eine krankhafte Sucht ist, an allem rumzumäkeln und mit nichts zufrieden zu sein – unfähig, sich Ersatz zu suchen und zu finden . . .“

Die Querulanten bleiben also dem Echten und Authentischen, der Wahrheit verpflichtet – das macht sie oft so penetrant und unausstehlich, aber auch einsam.