Biologisch ausbuchstabiert

Wenn Metaphern Debatten beherrschen: Bemerkungen zu einer Suppe, die sich bei näherem Hinsehen als heißgerührte Kaltschale entlarven lässt – zur Entzifferung des Genoms und anderen Problemen mit Sprache

von PETER FUCHS

In diesen Tagen wird ein Ergebnis ausgesprochen buchhalterischer wissenschaftlicher Arbeit frenetisch gefeiert als ein Jahrzehntausend-Ereignis, nämlich die nahezu vollständige Entzifferung des menschlichen Genoms. Wir sind, so zeigt sich bei dieser Gelegenheit, nahezu genetisch identisch mit dem Schimpansen, und mit dem kleinen Rest an Ungleichheit ist es scheinbar gelungen, der totalen Selbstmodifikation der menschlichen Gattung den Weg zu bahnen. Dem Ausmaß der Feier des Ereignisses entspricht das Ausmaß an Bedenken – ein massenmediales Fest, könnte man sagen, in dem sich Mutmaßungen über die jetzt möglichen Zukünfte der Menschheit auf einer Bandbreite zwischen Erlösungssehnsüchten und apokalyptisch tönenden Skandalisierungen zu einem unauflösbaren Brei vermischen: Man werde Krankheiten heilen und Körperteile aus eigenem Material ersetzen können; es sei denkbar, Jugendlichkeit genetisch auf Dauer zu stellen, Leidvermeidungen jeglicher Art zu ermöglichen und die natürlichen Defizite des Menschen endgültig verschwinden zu lassen. Aggressivität könne gentechnisch ausgebaut werden (keine Hooligans mehr!), die Welt so befriedet werden, dass sie den Träumen von Sozialpädagogen entspricht, die man dann auch nicht mehr benötigte – eine Habermaswelt der schönen, klugen, harmlosen, vernunftbereiten Menschen, in der, um das Schlimmste anzunehmen, schon ein Prinz Ernst August eine ungemein erfrischende und lebendige Figur wäre.

Es könnte sich lohnen, dieses Durcheinander von Visionen und Gegenvisionen ein wenig zu ernüchtern und auf ein paar elementare Dinge aufmerksam zu machen, zum Beispiel darauf, dass schon die Textmetapher (all dies Entziffern, Lesen, Entschlüsseln etc.) sonderbar unscharf ist. Das Genom als Schrift, der Mensch als ausgeschriebene Doppelhelix, als biologische Ausbuchstabiertheit, das ist nett, das ist eingängig, aber führt auf das Problem, dass Texte gerade nicht vollständig sind an ihrem Ort, gerade nicht Sinn enthalten, den man gleichsam ausbaggern und vorzeigen könnte – etwas Ganzes, das isolierbar in und an den Zeichen klebte. Bücher reden aber nicht in ihren Regalen miteinander, sie lesen sich auch nicht selbst. Sinn wird erzeugt durch Rezipienten, worin uns die Literaturwissenschaft wohl bestätigen könnte, und auch die Hermeneuten, gleich welcher Couleur, wirbeln vergnügt in der hermeneutischen Spirale, die die Bezeichnung für die Nicht-Abschließbarkeit der Texte ist, der sie ihre muntere Existenz verdanken. Derrida wird uns von fern her zuwinken, wenn wir sagen, dass Texte einen Strom unaufhörlicher Sinnproduktion eröffnen, in dem es keine Haltepunkte gibt, kein Wesen, keine Sache, kein Sein – nur den Anschluss, das Supplement, das derridaeske Gepfropfe oder das Rhizom von Deleuze/Guattari.

Die Schriftmetapher ist, geht es um die Vollständigkeit der Entzifferung des Genoms, trügerisch, ja kontraproduktiv. Markiert werden soll Perfektion und Abschluss, aber markiert wird tatsächlich in der Logik der Metapher: die Unmöglichkeit jeder Vollständigkeit überhaupt.

Nun könnte man sagen, dass dies Fliegenbeinzählerei sei. Man muss von Naturwissenschaftlern nicht erwarten, dass sie der subtilen Logik von Metaphern nachspüren können. Das sei Angelegenheit geisteswissenschaftlicher Delikatesse. Und dennoch mag es sein, dass die Schrift- und Textmetapher, indem sie sich nutzen lässt, als wäre sie eine Metapher für Abschließbarkeit, zugleich zeigt, dass es um eine besondere Unabschließbarkeit geht. Hinter dem Rücken der begeisterten Wissenschaftler setzt sich in der Metapher etwas durch, mogelt sich etwas heraus, das wie eine Art unbewusst verkündeter Einsicht arbeitet, eine Einsicht in einen Trick, der – achtet man erst einmal darauf – leicht dekonstruierbar ist.

Der Trick camoufliert die Maschinenhaftigkeit des Menschenbildes, das vorausgesetzt ist, wenn man in der Kombination von Aminosäuren eine Art Lochstreifen sieht, der – durchtickernd – determiniert, was als Mensch (sozusagen als Material) am Ende jeweils herauskommt. In einer nahezu bodenlosen Ignoranz wird ausgeblendet, dass das am Lochstreifen der DNS kondensierende Material (die Körper) nichts ist, was irgendeine Bedeutung hätte (außer vielleicht verzehrbares Fleisch zu sein), wenn nicht eine andere, weitaus bedeutendere Macht auf dieses herausgetickerte Material zugriffe: die Sphäre des Sozialen.

Niemand wird leugnen wollen, dass wir dem Genom unseren Mund, die Stimmritzen, die Geschmackspapillen verdanken, aber was dieser Mund tut, was er isst, was er nicht isst, wen er küsst (und wie er küsst), bei welchen Gelegenheit aus ihm erbrochen wird, wann aus ihm gesungen wird (und ob Fangesänge oder Arien), welche Sprache mit ihm gesprochen wird (und was in dieser Sprache möglich oder nicht möglich ist), wird im Zuge der Sozialisation reguliert. Dass unser Körper sexuell reagieren kann, ist zweifelsfrei genetisch bedingt, aber bei welchen Gelegenheiten der sexuelle Motor offen anspringen kann oder nur leise summen darf, welche Reize ihn anwerfen, wie seine polymorphe Perversität eingeschränkt oder ausgearbeitet wird, wie der Kontakt zwischen Liebenden angebahnt werden darf und wie nicht, wann Sexualität peinlich wirkt, wann locker, selbst zwischen wem sie zugelassen ist und wem nicht, dies alles entscheidet sich im Zuge dessen, was die sozialen Systeme (synchron und diachron weltweit verschieden) anbieten. Das Genom sagt nichts dazu, es schreibt in dieser Hinsicht nichts auf und nichts vor.

Meine Taxifahrerin heute Morgen brüstete sich damit, dass sie am Neujahrsmorgen in der Ostsee baden geht (Nachteil sei, sagt sie, dass sie nie krank werde), während ich nur erwidern konnte, dass ich von den widerwärtigsten Schauern überlaufen werde, wenn ich nur daran denke, kaltes Wasser könnte in die Nähe meines Nabels kommen. Dafür hätte ich den Vorteil, häufiger krank, also liebevoll versorgbar zu sein. Meine Kinder essen Leberwurst, ich nie, aber ich mag auch keine Affenhirne oder lebend verzehrte Fische. Ob man Kampfhunde ausrotten will oder Maulkorbzwang, Vermehrungs- und Züchtungsverbote für Hooligans erreichen kann, das hängt an sozialen Aushandlungsprozessen, die im Skript der Gene nicht erscheinen. Selbst die Weise, wie ich hier (und andere andernorts) über die Entzifferung des Genoms schreibe oder rede und wie die so entstehenden Texte aufeinander reagieren, einen Sinn erzeugen, der nicht festhaltbar ist, der sich rhizomatisch verbreitet, hängt in nichts mit genetischer Determination zusammen – ersichtlich nicht: Sonst wären wir alle ziemlich gleich und nicht etwa, wie es den Anschein hat, dämonisch und so unberechenbar, dass wir uns Freiheit unterstellen müssen.

Um dies zuzuspitzen: Die soziale Welt, ihre Regeln, Schemata, all ihre so vielfältigen (und noch lange nicht durchschauten) Formen, Raffinessen, Sinn- und Unsinnigkeiten, dieser ganze unausstaunbare Paramount des Sinns, der uns von Kindesbeinen angeliefert wird, blickt auf eine Jahrhunderttausende-Geschichte zurück, eine Geschichte ungezählter Kommunikationen, durch die die Welt inszeniert wird, in die wir uns, als bei Gelegenheit von Kommunikation Bewusstsein entstand, selbst hineinimaginieren können. Hier helfen die Metaphern der Entzifferung und der Vollständigkeit nicht weiter. Angesichts dieser Komplexität sind sie nur lächerlich. Ein vergleichbares Fortschrittsgetöse wäre in den Geisteswissenschaften nicht möglich, auch nicht in der Soziologie, aber schon gar nicht in der Systemtheorie luhmannschen Zuschnitts, die fasziniert und in großer Bescheidenheit vor den Komplexitätswundern sozialer Systeme steht.

Kurz, lassen wir uns nicht zum Narren machen, wenn die Kaltschale dieser wissenschaftlichen Entdeckung zur Suppe heißgerührt wird. Sie ist noch nicht einmal in der Nähe der Conditio humana, die im Zusammenspiel von Bewusstsein und sozialen Systemen, also durch strukturelle Kopplung zustande kommt – und nicht etwa als Effekt dessen, was man schlauerweise die genetische Schrift genannt hat. Kühlt man die Suppe aus, kann man genauer sehen, was sich, wenn der Gen-Code geknackt ist, ändert und nicht ändert zur gleichen Zeit. Wenig wird man sehen, wenn man auf die Zeichenspiele des genetischen Codes achtet, die keine Zeichen sind, keinen Sinn tragen, keinerlei Bedeutung hätten, spräche man nicht über sie in den Terms, die aus der sozialen Welt stammen, durch die die doppelt gemoppelten Schnüre der DNS nun gerade nicht laufen.

Freuen wir uns stattdessen über die ordentliche Erfassung des Genoms. Es hat ja keinen Sinn. Der scheint uns in der Koproduktion von Bewusstsein und Sozialsystemen vorbehalten – einer Koproduktion, die wahrlich zu komplex ist, als dass sie buchhalterisch, ordentlich und preußisch genau aufgelistet werden könnte.