„Die Leute sind das Kunstwerk“

Für die Dortmunder Ausstellung „vision.ruhr“ arbeitet Jochen Gerz an einem Projekt, bei dem sich BesucherInnen fotografieren lassen können und dafür ein Foto von anderen Beteiligten geschenkt bekommen. Zugleich wächst im Museum am Ostwall eine monumentale Galerie aus anonymen Gesichtern

Interview CHRISTOPH DANELZIK-BRÜGGEMANN

Jochen Gerz beteiligt sich mit dem Projekt „Das Geschenk“ an der Medienkunstausstellung „vision.ruhr“ in Dortmund. Auf dem Ausstellungsgelände können BesucherInnen sich in einem Fotostudio von StudentInnen der Fachhochschule Dortmund porträtieren lassen. Sie bekommen das gerahmte Bild einer anderen Person, nicht ihr eigenes, zum Geschenk, das sie zu Hause aufhängen können. Neben dieser Vernetzung einander völlig unbekannter Menschen wird die auf etwa 5.000 Bilder anwachsende Porträtgalerie zweifach öffentlich: Alle Fotos werden auf Sonderseiten einer regionalen Tageszeitung abgedruckt, und ein zweiter Bildersatz ist im Museum am Ostwall zu besichtigen.

taz: Herr Gerz, haben Sie eine besondere Schwäche für Tageszeitungen?

Jochen Gerz: Ja, ich habe eine Schwäche für Tageszeitungen, ich habe auch eine für Kugelschreiber. Sie sind das Interface, wo ich mich mit den Betrachtern der Arbeit treffe. Ich habe es gerne, wenn ich die Werkzeuge mit den Anderen teile. Dann weiß ich, dass ich ihnen und sie mir nicht ganz entkommen können.

Versuchen Sie durch die Wahl des Mediums – Fotografie als Arbeitsmittel – die Schwelle zur Kunst zu senken, um ein anderes Publikum erreichen?

Der Kunstbegriff hat sich trotz Fluxus und Dada immer wieder so generiert, dass die Kunst aus der Differenz zum Betrachter entsteht. Sie behauptet weiter ihren Status der Monopolstellung: Alle die Anderen sind die Konsumenten und der Künstler ist der Autor. Das hat in der Tat etwas Zwanghaftes. Vor dem Hintergrund der sich trotz aller Widerstände verbreitenden Demokratisierungen, auch in der Wirtschaft und auf anderen Gebieten, gilt: Die neuen Technologien sind nicht als Einbahnstraßen konzipiert. Die Menschen werden mehr und mehr zu Mitspielern. Man muss sich fragen, was die Kunst davon hält.

In Dortmund zeigen Sie die Leute, die mitmachen, als Subjekte und Objekte eines Kunstwerks.

Für mich sind die Leute das Kunstwerk, der Ort der Kunst. Wichtig an der Arbeit „Das Geschenk“ ist, dass an die 5.000 Menschen später ein Porträt bei sich zu Hause haben, und dass das ein Porträt ist von jemandem, den sie nicht kennen. Sie müssen die fremde Person zu Hause aufnehmen und aushalten. 5.000 Menschen werden zu einem Archiv, bevor sie sich wieder aus den Augen verlieren. Der Mensch, der auf dem Bild zu sehen ist, verschwindet nicht einfach im Bild, er bleibt virulent. Es ist ein Mensch, der irgendwo lebt, den ich hier bei mir zu Hause habe: ein Fremder, mit dem ich etwas zu tun habe. Wir beide sind Teil der gleichen Arbeit. Eine kleine Verneigung vor der Kunstgeschichte ist auch dabei. Die Bildergalerie, die hier entsteht, wird die Dimension eines Denkmals haben, denn schon in zehn Jahren wird sie ein relativ repräsentativer Fundus sein.

Die „Westfälische Rundschau“ soll zudem ein Publikum einbinden, das nicht unbedingt in solche Ausstellungen gehen würde. Wer die Zeitung aufschlägt, wird überrascht sein, eine ganze Seite mit Porträts zu sehen. So etwas wirkt sehr fremd in einer Tageszeitung.

Der Verleger sagte: „Sie holen uns die Leser in die Zeitung.“ Wenn am Schluss auf dieser Seite siebenhundert, tausend oder mehr Köpfe sind – ich weiß nicht, wie viele es sein können am Übergang vom Bild zum Pixel –, dann sind in der Tat viele Leser in der Zeitung.

Wie kamen Sie zu den ästhetischen Regeln der Porträts? Die Leute sind exzentrisch ins Bild gesetzt, in extremer Nahsicht, in ganz bestimmter, immer gleichmäßiger Beleuchtung. Sie blicken ernst.

Seit einiger Zeit fotografiere ich nicht mehr selber. Deshalb bin ich freier in Bezug auf die Thematik. Ich hätte selbst keine Porträts machen können, bei mir ist das alles zerschnitten und fragmentarisiert. Die Fotos haben das gleiche Format, die Köpfe sind etwas aus dem Bildzentrum gerückt. Die Bilder hängen anfangs ganz schlicht in einer Reihe, sie werden bald das ganze Museum durchquert haben und dann in zwei und danach in drei, vier, fünf Reihen hängen. Vielleicht werden die Bilder zur Verlustanzeige. Vielleicht hat man das Gefühl, die seien alle in der Titanic verschwunden. Es muss doch einen Grund geben, weshalb sie da sind.

Sie hatten einmal ein Projekt in Paris, da sollten sich die Leute lächelnd fotografieren. Jetzt ist Lächeln verboten.

„Gründe zu lächeln“, ja. Das ist ein sehr eigenartiges Projekt, das immer weiterläuft. Da geht es auch um Porträts. Leute werden eingeladen, Fotos von sich machen zu lassen und dabei an einen Moment zu denken, als sie lächelten. Der Ausdruck des eigenen Nicht-über-sich-Verfügens ist das Eigentliche und das Schöne bei dem Porträt-Gedanken überhaupt: Man kann es nicht selbst machen, weil man sich selbst nicht sieht. Man ist, aber man hat sich nicht.

Haben Sie an der Erarbeitung des Konzeptes die Studierenden beteiligt?

Etwas muss ich noch selbst tun. Es wäre keine absurde, sondern eine durchaus logische Vorstellung, wenn man einfach sagen könnte, ich bin der Schöpfer von allem, was passiert. Man könnte dann ausschlafen. Eine Idee von Angelus Silesius oder von Robert Filiou. Das wäre wahrscheinlich der Inbegriff des Kreativen.

Auf Autorenschaft wollten Sie dann doch nicht verzichten.

Ich interessiere mich dafür, doch ich bin nicht alleine. Der Kunstbetrieb existiert. Aber ich möchte die Frage etwas drehen. Wie eine Skulptur, ich möchte sie genau angucken und über sie nachdenken. Es gibt so viel zwischen Schwarz und Weiß. Ich will etwas mehr vom Künstler, von mir, zur Disposition stellen.