„Es geht um das Schicksal der Vermissten“

Die Anthropologin Ewa-Maria Klonowski über die Suche nach Massengräbern und die schwierige Identifizierung geborgener Leichen

Die forensische Expertin Ewa-Maria Klonowski untersucht und identifiziert die Überreste ermordeter Menschen. Seit 1998 arbeitet die aus Polen stammende Isländerin für die „Bosnische Staatskommission für vermisste Personen“.

taz: Nach dem Krieg wurde eine umfassende Aufklärung der Verbrechen in Bosnien-Herzegowina versprochen. Gibt es Ergebnisse?

Ewa-Maria Klonowski: Die Aufgabe ist gewaltig. Wenn wir heute an die Toten von Srebrenica denken, sollten wir auch jene einschließen, die im Jahr 1992 unter grausamen Umständen umgebracht worden sind. Insgesamt sind in Bosnien weit über 200.000 Menschen umgekommen, der größte Teil im Zuge „ethnischer Säuberungen“.

Wie viele Leichen wurden bisher in Bosnien entdeckt, wie viele wurden untersucht?

Bisher wurden die Überreste von rund 9.000 Menschen untersucht, davon etwa jeweils die Hälfte von den Teams aus Den Haag und unserer Kommission. Insgesamt sind gut 30.000 Menschen als vermisst gemeldet, davon 27.000 muslimische Bosnier, 2.500 Serben und rund 700 Kroaten.

Aber Sie sprachen doch von mehr als 200.000 Opfern?

Diese Zahl bezieht alle Kriegsopfer ein. Man muss aber bedenken, dass an den Fronten verhältnismäßig wenig Menschen gestorben sind, selbst im belagerten Sarajevo gab es „nur“ 10.000 Tote. Viele Opfer der „ethnischen Säuberungen“ wurden von Angehörigen begraben, also nicht als vermisst gemeldet. Oftmals wurden ganze Familien ausgelöscht, so dass es niemanden gibt, der nach diesen Vermissten suchen lässt. Unser vordringliches Ziel ist es, das Schicksal der rund 20.000 vermisst Gemeldeten zu klären.

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Zur Zeit untersuchen wir ein Massengrab bei Bosanska Krupa. 124 Menschen sind am 4. und 5. August 1992 aus Omarska dorthin gebracht und dann ermordet worden. Das Konzentrationslager Omarska wurde danach aufgelöst. Wir wissen, dass allein in diesem Lager 1.200 Gefangene ermordet wurden.

Auf welche Weise finden Sie die Massengräber?

Über Hinweise von überlebenden Opfern, zunehmend auch aus der serbischen Bevölkerung. Die Suche wird aber erschwert dadurch, dass nach dem Krieg viele Spuren verwischt wurden. Die menschlichen Überreste wurden von einem Ort zum anderen gebracht. In der Veles-Region etwa, in der Ostherzegowina, in der Nähe von Nevesinje, mussten im Mai 1992 die 72 muslimischen Bewohner eines kleinen Dorfes fliehen. Sie wurden von serbischen Soldaten gestellt, Männer und Frauen voneinander getrennt. Die 30 Männer wurden abgeführt und tauchten nie mehr auf. Die Frauen wurden nach Nevesinje gebracht, drei junge Frauen abgesondert und dann in ein Lager überführt, wo sie vergewaltigt wurden. Nur diese drei Frauen haben überlebt. 1999 machten wir uns auf die Suche. Wir fanden heraus, wo die Männer ermordet wurden. Der Ort lag an einer Stelle, der nach dem Abkommen von Dayton der bosnisch-kroatischen Föderation zugesprochen wurde. Serbische Behörden haben die Leichen 1995 auf das Gebiet der Republika Srpska schaffen lassen. Schließlich fanden wir dieses zweite Grab und konnten die Spuren sichern. Die Überreste waren in 30 Plastiksäcken verpackt. Aber es fehlten eine Reihe von Knochen. Nach langen Recherchen fand ich die Höhle, in der die ermordeten Männer ursprünglich gelegen hatten, und fand die fehlenden Knochen. Die Überreste der Frauen und Kinder dieser Gruppe fanden sich in einer Höhle ganz in der Nähe der Stadt Nevesinje.

Wie reagieren die serbischen Behörden auf Ihre Nachforschungen?

Die Polizei der Republika Srpska ist nach einem Abkommen von 1997 verpflichtet, die Fundstellen zu sichern. Sie ist verantwortlich für unsere Sicherheit.

Angesichts des Ausmaßes der Verbrechen gehen die Untersuchungen nicht gerade schnell voran.

Sicher, bei den Untersuchungen der rund 7.100 Toten von Srebrenica hat Den Haag von den bislang 4.600 exhumierten Leichen erst 84 per DNS-Verfahren identifizieren können.

So wenig? Woran liegt das?

Es müssen sehr aufwendige Untersuchungen angestellt werden, bei denen Verwandte herangezogen werden, so dass die Gene verglichen werden können. Nach wie vor mangelt es an Geld, der bosnische Staat hat zu wenig und die internationalen Organisationen sind zögerlich, wenn es um die Finanzierung der Ausgrabungen und Untersuchungen geht. Auch die Koordination zwischen den beteiligten Organisationen könnte verbessert werden. Es gibt noch viele Gräber in Bosnien, wir haben noch sehr viel Arbeit vor uns.

INTERVIEW: ERICH RATHFELDER