Die Deutschen und ihr Wald

Allmende, Naturromantik, Waldsterben: die schwierige Beziehungskiste zwischen Bäumen und Teutonen

Es ist der Deutschen liebste Freizeitbeschäftigung. Nicht ins Fußballstadion oder auf die Love Parade zieht es zwischen Alpen und Ostsee die meisten Menschen am Wochenende, sondern schlicht und einfach in den Wald. Kreuz und quer streifen sie durch die Forsten, sammeln Pfifferlinge, Heidelbeeren oder Holz fürs Grillen – ohne sich nur im geringsten um Recht und Eigentum zu scheren. Dürfen sie das überhaupt?

Sie dürfen. Nicht alles und überall, aber eines zumindest steht fest: „Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet.“ So steht es im 1975 erlassenen Bundeswaldgesetz, das für alle Bundesländer und alle Waldbesitzer verbindlich ist – auch für die privaten, denen immerhin 46 Prozent des bundesdeutschen Waldes gehören.

Schwieriger wird es für Mountainbiker oder Radler, Pilzesammler oder Beerenpflücker. Ihre Rechte sind in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Meist aber gilt: Das Beerenpflücken ist erlaubt, auch einen „Handstrauß“ aus Zweigen und Blumen dürfen Spaziergänger mit nach Hause nehmen.

Im internationalen Vergleich ist das viel, sehr viel sogar. In Ländern wie Frankreich oder Italien, deren Rechtskultur ausschließlich auf das Römische Recht zurückgeht, ist Privateigentum gleich Privateigentum: Der Eigentümer bestimmt selbst, wer seinen Wald betreten darf. Und das heißt in aller Regel: niemand.

Das deutsche Waldrecht hingegen ragt als letztes Relikt eines alten, germanischen Rechtsinstituts in die Gegenwart – der Allmende. Bis in die frühe Neuzeit, als die Juristen der absolutistischen Fürsten das Römische Recht auch nördlich der Alpen durchsetzten, nutzten die Bewohner eines Dorfes Wälder und Weiden meist gemeinsam. Was an Allmendeflächen blieb, fiel später der Modernisierung der Landwirtschaft zum Opfer. Wenn auf früheren Weideflächen der eine Bauer plötzlich Mais, der andere aber Kartoffeln anbauen wollte, führte an der Aufteilung in Privatbesitz kein Weg vorbei.

In einigen Gebieten, beispielsweise in Teilen von Thüringen, Niedersachsen und Baden-Württemberg, blieben beim Wald nicht nur Nutzungs-, sondern sogar Besitzrechte übrig. Die Besitzbürger eines Dorfes überführten die vormoderne Rechtsform der Allmende in die moderne Form der Genossenschaft. Auch in der Schweiz bewirtschaften die Gemeinde-„Burger“, die nicht mit den schnöden Bürgern der politischen Gemeinde zu verwechseln sind, ihren Wald gemeinsam.

Aber für die Deutschen ist der Wald ohnehin mehr als eine Holzplantage. Die Beziehungskiste zwischen Bäumen und Teutonen ist, so will es das Klischee, hoch emotional – ein Sinnbild für deutsche Romantik, Zivilisationsfeindschaft, Weltentrücktheit. Eine Beziehung, die der Hamburger Volkskundler Albrecht Lehmann in seinem Buch „Von Menschen und Bäumen. Die Deutschen und ihr Wald“ unter die Lupe genommen hat.

Als sich die Nation in den Achtzigern über das „Waldsterben“ erregte und ihre Visionen vom nahen Weltuntergang in die braunen Nadeln projizierte, fühlten sich die Nachbarn in diesem Bild vom Deutschen bestätigt. Die Franzosen übernahmen das Wort „Waldsterben“ prompt in ihren Wortschatz.

RALPH BOLLMANN