Die Tür zum Flur bleibt offen

Die Glocksee-Schule in Hannover war vor knapp 30 Jahren einer der ersten Versuche antiautoritärer Erziehung. Barbara Both hat den sachten Wandel vom „Befreien“ zum „Grenzen setzen“ als Rektorin begleitet. Heute hat sie ihren letzten Schultag

von CHRISTIAN FÜLLER

Zuerst hat Tim* die Schokolade fein säuberlich verteilt und in der Sitzecke verschmiert. Dann hat er, als ihn Marie dafür schimpfte, seine Mitschülerin verhauen. Jetzt sitzt der Siebenjährige im Rund der 20 „Mambas“ und soll sich erklären. Tim aber erzählt nur umständlich von einem Mitschüler. „Tim“, fragt ihn Holger Braun, sein Lehrer, „was hat das damit zu tun, dass du die Schokolade verschmiert hast?“

Was wie ein kleiner Schauprozess an diesem Mittwochmorgen in der Glocksee-Schule in Hannover begonnen hat, endet dann doch ohne Verurteilung. Alle anwesenden Mambas sind genervt von Tims Ausflüchten. Das reicht. Denn alle, auch Tim, wissen: Das war nicht okay. Das muss nicht wieder vorkommen.

Die Mamba-Gruppe, das ist eine der drei Startgruppen der Glocksee-Schule, kann jetzt mit der allmorgendlichen Klassenversammlung weitermachen. Den Namen „Mambas“ haben sich die Kinder selbst gegeben. Einer Klasse wie in Regelschulen sind sie nämlich nicht zugeordnet. In „der Glocksee“, die man nach der Zehnten verlässt, wird bis zur Vier altersgemischt gelernt. Genau wie die „Zicke-Zackes“ und die „Delphine“ bestehen die Mambas also aus Erst- bis Drittklässlern.

Alternative Gründerzeit

„Wenn ich mir von den Eltern etwas wünschen könnte“, sagt Barbara Both, die zweite Lehrerin aus dem Mamba-Team, „dann, dass wir auch von der vierten bis zur sechsten Klasse jahrgangsübergreifend unterrichten.“ Doch die Frau, die zugleich Leiterin der Schule ist, weiß nur zu gut: Reformen in der Reformschule Glocksee sind schwierig. Fast so wie in den staatlichen Schulen. Dort muss erst die Schulaufsicht überwunden werden. In der Glocksee heißt es, die Eltern zu überzeugen. Zur Schulkultur im roten Klinkerbau am Lindenhofe 14 gehört, dass die Eltern ihre Kids bekochen, Feste vorbereiten und manchmal auch im Unterricht dabei sind. Also bestimmen sie auch viel. Und die Rektorin muss um ihre Zustimmung werben.

Barbara Both, Jahrgang 1938, stammt aus der alternativen Gründerzeit der Republik. Aus einer Kinderladeninitiative heraus, inspiriert von dem Sozialphilosophen Oskar Negt, gehörte sie zu jenen, die mit konkreten Projekten aufbrachen. Die Dutschkes, die Semlers und wie die 68er alle hießen, bereiteten mit Theorie und Aktion den Boden dafür. In Hannover setzten sie erst einen Kinderladen, dann 1972 eine ganze Schule gegen die Verhältnisse, die ohne Zweifel autoritär waren. Was hat sich seitdem geändert? Wie sieht die Grundschullehrerin und Rektorin Both heute, was in der Glocksee-Schule unter dem Leitmotiv „Selbstregulierung“ geschah?

Die Antwort fällt ihr nicht leicht, hier im Zimmer der Mambas. Denn bei Tim ist das so eine Sache mit der Selbstregulierung. Keine Minute hat er still gesessen. Nun flitzt er, während sich die anderen noch anhören, warum die zarte Julia heute unbedingt Mieke treffen muss, zu seinem Fach. Zuerst muss der Treibauf das Schönschreibheft haben. Dann den Gameboy. Tim ist kaum zu bremsen.

„Viele Eltern“, sagt Both dann fester, als man es ihrer beinahe brüchigen Stimme zutrauen würde, „viele Eltern haben Angst, es sich mit ihren Kindern zu verscherzen.“ Dass die Papis und Mamis der 90er dabei vieles zulassen ist das eine. Das andere ist, „dass sie sich mit ihren Kindern nicht mehr auseinander setzen“. Was heißt das für die Praxis einer Schule, die doch antiautoritär sein will? „Wenn wir damals angetreten sind, die Kinder zu befreien“, so sagt die Alternativschulgründerin, „dann geht es heute häufig darum, ihnen Grenzen zu setzen“.

Verbindliche Arbeitszeit

Also wurden in der ehemals grenzenlosen Schule sachte Markierungen gezogen. Da, wo es noch heute kein Klingelzeichen gibt, keine Noten, keine Trennlinie zwischen Fächern, wo selten eine Tür verschlossen ist, heißt es inzwischen: Es gibt eine feste Arbeitszeit, zweimal am Tag. Die wird mit zunehmender Verbindlichkeit vereinbart zwischen Lehrern und Schülern. Ziel ist, dass die Schüler sich für ihren Lernfortschritt selbst verantwortlich fühlen. Die Glocksee trifft auf diese Weise ein Theorem, das der Soziologe Ulrich Beck Mitte der 80er in seine „Risikogesellschaft“ schrieb, und das inzwischen zu den Gemeinplätzen jedes Personalchefs zählt. Für den Einzelnen ist es danach in einer von Information und Wissen bestimmten Gesellschaft enorm wichtig, sein eigener Fortbildungsmanager zu sein: Was muss ich dazu oder neu lernen, um weiter zu kommen, um wieder eine Chance auf einen Job zu haben? Jeder muss das letztlich für sich selbst herausfinden – trotz Arbeitsamt und Motivationstraining. Die Glocksee-Kids lernen das schon im zarten Mamba-Alter von sechs bis acht. So will es die Theorie.

Die Praxis des alternativen Schulalltags aber ist nicht nur ganz anders als in Regelschulen, sondern vor allem komplizierter. Jan zum Beispiel mag die Mambas nicht verlassen. Er will lieber etwas tun, was es in der Glocksee streng genommen gar nicht gibt: sitzen bleiben. Der Achtjährige hat bereits „mit Holger und Barbara“ darüber gesprochen. Nur hat er seine Rektorin nicht überzeugen können. „Es geht nicht, dass du bleibst“, hat sie zu ihm gesagt, „Du musst in die Vierte.“

Ob Jan das versteht, es akzeptiert oder gar dabei mitzieht, das wird sich zeigen. Aber er sollte seine Teamchefin Both nicht unterschätzen. „Ich bin auch schon mal überzeugt worden“, sagt sie. Die Betonung liegt, unabsichtlich, auf „auch schon mal“.

Anfang der 90er ließ sie sich nicht überzeugen. Damals, als die Schule eine Krise im Innern durchzustehen hatte. Wie sie in selbst verwalteten Projekten eben passieren. Von außen kann man das kaum verstehen. Ein Teil der Lehrerschaft wollte, das stellte sich in dieser Klarheit wohl erst mit der Zeit heraus, etwas grundsätzlich Anderes.

Flurfreie Zeiten?

Wer heute fragt, worum es ging, bekommt lange, umständliche Antworten. Manchmal auch nur Schweigen. Erst spät findet eine der Lehrerinnen dann doch ein Wort dafür: „flurfreie Zeiten.“ Nicht mehr rausgehen dürfen. Im Unterricht bleiben müssen.

Obwohl das kaum ein Glocksee-Kind macht, einfach hinausgehen – die prinzipielle Möglichkeit gehört zum Grundverständnis. Sie zählt zu der Substanz, die die Glocksee-Schule und hunderte andere antiautoritär gestartete Schulversuche von den 40.000 Lehranstalten im Land unterscheidet. „Lernen ohne Zwang“ heißt der feine Unterschied. Auch heute noch.

Denn Barbara Both, die schon damals Chefin war, ohne es wirklich zu sein (sie ist in der fünfköpfigen Leitung prima inter pares), hat die Herausforderung angenommen. Die Türen zum Flur blieben offen, einige Lehrer kehrten der Schule den Rücken. „Es ging auch um diesen Stuhl hier“, erinnert sie sich, auf ihren Sitz deutend. „Ich habe nachgedacht und mich entschieden zu kämpfen.“ Sie, die erklärte Nichtkämpferin. Sie, die „auch nicht immer weiß, was richtig ist.“ Damals wusste sie es. „Weil beides nicht geht: Man kann nicht eine normale Lehrerin sein wollen, eine die ungeduldig ist, irgendwann, und diszipliniert. Und zugleich eine, die ihre Kinder ganz versteht.“

Vergangenen Samstag hat eine Lehrerin sich bei Barbara Both bedankt. Weil sie ihr ein Vorbild sei, wie Frauen mit Macht umgehen: Ruhig nämlich, sich mit anderen beratend, dann aber beharrlich, fest, ohne das Bedürfnis, Geltung zu erringen. Frau Both mag gelächelt haben dazu. Es war ihre Verabschiedung. Am heutigen Mittwoch hat die Mitbegründerin der Glocksee-Schule mit dem schönen Garten ihren letzten Schultag.

* alle Schülernamen sind von der Redaktion geändert