Die Rache Europas

TV-Voyeurismus kommt aus den USA, wurde in die alte Welt exportiert und kehrt nun mit „Big Brother“ zurück – als therapeutischer Container
aus Washington PETER TAUTFEST

„Der Kontinent schlägt zurück“, schreibt die Washington Post: Das sei Europas Rache für Hormonfleisch und Bananen. „Die Amerikaner werden das nicht hinnehmen“, glaubt Pascal Josephe, Vorsitzender einer Consulting-Firma. Aber nein, Amerikas Publikum werde nicht revoltieren, glaubt dagegen Leslie Moonves, Chef der amerikanischen Fernsehanstalt CBS.

Die Rede ist von „Big Brother“, der Fernsehsendung des niederländischen Produzenten De Mol, die seit letztem Mittwoch an fünf Abenden in der Woche im amerikanischen Fernsehen zu sehen ist. Nach europäischem Vorbild lassen sich auch hier zehn ausgewählte Kandidaten 100 Tage lang wegsperren, um nach und nach von den Zuschauern herausgewählt zu werden. Damit ist in den USA die zweite Reality-TV-Show aus Europa angelaufen, nachdem jahrzehntelang die USA den Kulturmarkt Europas dominierte.

Am Mittwochabend um acht Uhr läuft „Survival“, 16 Schiffbrüchige, die sich auf einer Insel als kollektiver Robinson Crusoe versuchen, und gleich danach um neun sind die zehn Freiwilligen zu sehen, die sich in einem mit Kameras gespickten Haus haben einsperren lassen, und die ein reales Remake von Jean Paul Sartres „Die Hölle sind die anderen“ inszenieren.

Quoten durch Voyeur-TV

„Entertainment der niedrigsten Art ist nicht mehr Amerikas Monopol“, schreibt die Washington Post, und das Time Magazine widmete der amerikanischen Begeisterung für „Voyeur-TV“ europäischer Provenienz Ende Juni gleich eine ganze Titelgeschichte. Die europäischen Importe bescheren dem kränkelnden Sender CBS Rekordeinschaltquoten, und so wollen denn auch andere Sender wie PBS, ABC und MTV das Format übernehmen bzw. weitere Reality-TV-Shows ins Programm bringen. PBS wird nächstes Jahr die Situation amerikanischer Siedler auf der Prärie simulieren – gleichsam eine Verbindung von „Survival“ und „Big Brother“ – und das alles in „real time“. Als ästhetisches Konzept ist Reality-TV natürlich keine Erfindung Europas – jedenfalls nicht direkt, sondern gewissermaßen über Bande.

Zunächst gab es in Amerika schon lange Reality-TV: „Candid Camera“, Amerikas Version von „Vorsicht Kamera“, und „Cops“, eine Sendung, bei der Polizeieinsätze live gefilmt und ungeschnitten gesendet wurden. Bevor Europa etwas damit anfangen konnte, gelangten die kulturellen Grundlagen der Schaulust in Amerika zur vollen Reife. Dann machte Europa daraus TV, das re-exportiert wird.

Kulturereignis Therapie

Grundlagen der Produktionen sind die therapeutische Weltanschauung und die Gruppentherapie als kulturelles Ereignis. Den Reality-TV-Shows liegt nämlich das Konzept von Gruppentherapie und -dynamik zugrunde. Die Wiener Therapeuten und Psychologen Jacob Moreno und Fritz Perls brachten’s nach Amerika, als sie während der Nazizeit emigrieren mussten. Der Gedanke war, dass Menschen nur in Gruppensituationen und in Konfrontationen zu ihrem wahren Selbst finden. Gruppendynamische Prozesse sollten in die seelische Katastrophe und damit zur Katharsis führten. Moreno entwickelte das Psychodrama, Perls die Gestalttherapie.

Beides hat therapeutische Bedeutung, wurde aber auch zur gehobenen Form der Unterhaltung und zum Seelenabenteuer. Nicht alle, die zu Hunderten nach Kalifornien zu Fritz Perls pilgerten und noch heute die Kassen der Institute füllen, kommen ihrer seelischen Not wegen. Manch einer sucht Auseinandersetzung und Konfrontation, Intimität und Kontakt, Anerkennung oder Bewährung, und manchmal auch – wie einige der Bewohner des Big-Brother-Hauses – schlicht Sex.

Nach dem Krieg kamen die in den USA entwickelten Methoden nach Europa, wo sie genauso wie vorher in Amerika profaniert wurden. Zu Dutzenden boten Berufene und weniger Berufene Selbsterfahrungs- und Encountergruppen an. In den USA wurden derweil aus den gruppentherapeutischen Ansätzen die „Games“ entwickelt, bei denen Firmen ihre Bewerber in gedachte und nicht selten auch in reale Extremsituationen bringen, in denen es um das Überleben eines einzigen Bewerbers geht.

Dubiose Heilsbringer

Gruppenprozesse in Extremsituationen nutzt seit Jahrzehnten eine Organisation namens „Outward Bound“ sowohl therapeutisch und pädagogisch als auch bei der Rehabilitation von Straffälligen. So wandern jugendliche Strafgefangene durch die Wüste von Sonora, und die abendlichen Besprechungen gleichen dem Stammesrat der „Survival“-Show.

Auch zum Nepp eignet sich das Verfahren: In Kalifornien bietet unter dem irreführenden Titel „Transformational Technologies“ ein Heilsbringer und Geldschneider Persönlichkeitskurse an, deren Einstieg die Situation von Schiffbrüchigen durchspielt. Das Spiel wird von so genannten „Coaches“ so beeinflusst, dass von Bord Geworfene ihre Niederlage als Parabel auf die Krise ihres Lebens erleben, in der ihnen als Ausweg teure Persönlichkeitskurse angeboten werden.

Zur Kunstform hat die therapeutische Entblößung Spaulding Gray entwickelt, ein amerikanischer Autor und Erzähler. Vor voll besetzten Häusern tritt er auf die Bühne und sucht Freiwillige für Interviews. Diese fördern meist herzzerreißende oder haarsträubende Geschichten zu Tage, die Protagonisten und Publikum gleichermaßen zu Weinkrämpfen hinreißen. Zu Millionen wird das Fersehpublikum Zeuge solcher öffentlichen Innenschau bei jenen Talkshows, für die besonders Oprah Winfrey bekannt wurde.

Was mit den Reality-TV-Shows aus Europa nach Amerika kommt, ist letztlich das Ergebnis eines vielfachen gegenseitigen Kulturaustausches, bei dem die Lust am Authentischen die Fiktion verdrängt. Realität gerät so zur Inszenierung.