Verwahrlost

Das Schlagloch
von MICHAEL RUTSCHKY

„Man versucht, aus dem Ehrenbürger Europas eine beinahe kriminelle Figur zu machen.“ „Der Tagesspiegel“, 22. 6. 2000

. . . ob Hürland-Büning „von der Firma Thyssen Rheinstahl Technik auch keine Gelder bekommen“ habe. Hürland-Büning antwortete: „Nein.“ Auf die Nachfrage Beuchers „Definitiv nicht?“ bestätigte die Zeugin: „Definitiv.“ Diese Angaben möchte sie dem Schreiben ihrer Anwältin zufolge nun streichen und durch einen anderen Text ersetzen lassen: Sie habe sich daran „nicht erinnern können“ und inzwischen nachgeprüft, dass sie doch „monatliche Zahlungen“ von Thyssen Rheinstahl Technik erhalten habe. „Es handelt sich bei diesen Zahlungen jeweils um 15.000 Mark monatlich plus Spesen plus Mehrwertsteuer von November 1991 bis Mitte 1993.“ „Frankfurter Rundschau“, 17. 6. 2000

Der Begriff der Verwahrlosung entstammt der älteren Theorie. Die neuere spricht von präkonventioneller und konventioneller Moral. Die Maxime des Handelns ist: Du darfst alles tun, du darfst dich bloß nicht erwischen lassen. Was den Akteur kontrolliert, ist also Strafangst statt der des Gewissens. Wird der Täter erwischt, sucht er sich durch Leugnen, Umdeutung der Beweise und endlose Ausflüchte zu entziehen. Er hat kein kohärentes inneres Bild seiner Handlungen. Er möchte sie in eine unendliche Vielfalt sozialer Aspekte auflösen.

Der Psychoanalytiker Gerhard Maetze pflegte seinerzeit immer wieder darauf hinzuweisen, dass sich Verwahrlosung keineswegs nur bei Kriminellen findet oder bei Pennern, deren Outfit schon entsprechend ausschaut. Man müsse stets auf Rechtsanwälte oder Ärzte oder Lehrer oder Politiker gefasst sein, die in diesem Sinne ohne Gewissen handeln, ohne Über-Ich, sondern sich nur noch nach sozialen Gelegenheiten respektive Kontrollen orientieren.

Was die Politiker angeht, so bieten uns Dr. Kohl und seine Gesellen seit Anfang des Jahres ja ein geradezu erschütterndes Schauspiel im Hinblick auf ihre Verwahrlosung. Eigentlich haben sie nichts Unrechtes getan – sofern sie etwas Unrechtes getan haben, nehmen sie das auf sich –, im Übrigen aber verfolgen diejenigen, die ihnen unrechtes Tun vorwerfen, bloß ihre eigenen dubiosen Interessen, die Dr. Kohl sogleich schonungslos aufdeckt.

Verwahrloste kennen nur Verwahrloste. Als Michael Corleone (Al Pacino) vor dem US-Senat aussagt, kann sein Anwalt Tom Hagen (Robert Duvall) ihn immer wieder darüber aufklären, auf welcher Gehaltsliste welcher feindlichen Familie jener Senator steht, der eben diese kritischen Fragen stellt. Die Sozen, die mitsamt der SED die Wiedervereinigung verhindern wollten, jetzt versuchen sie gnadenlos deren Vollender zu diskreditieren. Hübsch in das Bild passen auch die Operationen der hessischen Landesregierung, die ihren Wahlprüfungsausschuss verfassungsgerichtlich dekonstruieren lassen möchte. Wenn Roland Koch seinen Wahlkampf mit Schwarzgeld geführt hat, bildet das Hauptproblem das Kontrollorgan, das ihn dafür zur Rechenschaft ziehen könnte. Schafft man das Kontrollorgan ab, ist die Bahn wieder frei. Was Frau Hürland-Büning betrifft, so passt sie mit Michael Corleone unter dem Aspekt des Familialismus zusammen: Sie brauchte so viel Kohle für die vielen Kinder und Enkel. Dass die Familie über alles geht, hat Michael Corleone von seinem Vater (Marlon Brando) gelernt, dem dieser amoralische Familialismus noch ganz unproblematisch war, während Michael eigentlich über ein korrektes Gewissen verfügt. Es versenkt ihn im Zuge der geschäftsnotwendigen Verbrechen immer tiefer in Depression. Und weil wir gerade dabei sind: Gern traktiere ich meinen alten Freund Theckel mit der brennenden Frage, ob Monika Hohlmeier im Strauß-Clan das Äquivalent für Michale Corleone sei. Auch sie scheint – wenigstens zeitweise – an den Machinationen ihres Vaters und Bruders moralisch zu leiden, während Max sich einfach eine um die andere Fettschicht anfrisst (was ihn mit Dr. Kohl und Frau Hürland-Büning verbindet).

Merkwürdigerweise hält das Publikum Verwahrlosung in diesem Sinn präzis für den zentralen Fehler des Politikercharakters. Er wird auch als Opportunismus oder Gesinnungslosigkeit umschrieben – doch kommt man hier leicht ins Schleudern. Denn als Gegenbild zur opportunistischen Politikerseele gelangt ein Ideal von Prinzipienfestigkeit ins Spiel, das eigentlich aus der Religionsgeschichte stammt: der Märtyerer, der für seine Überzeugungen stirbt. Sie gehen ihm über alles, und so kann er – wofür zahllose Exempel vorliegen – in der Politik beinahe noch mehr Unheil anrichten als der Verwahrloste. Oder eine komische Figur werden wie Oskar Lafontaine. Es ist einer organisierten Person unmöglich, in jedem Augenblick ausschließlich dem Über-Ich zu folgen; die Spannung des Schuldgefühls, das aus den fortlaufenden minimalen Übertretungen resultiert, nötigt zum intelligenten Weitermachen, und das ist eine komplett andere moralische Organisationsform als die Verwahrlosung, der es bloß darauf ankommt, dass Unkorrektes sozial unbeobachtet bleibt. Zur Not löschen wir die Festplatte.

Wie gesagt, Gerhard Maetze lehrte Verwahrlosung an Rechtsanwälten und ihresgleichen zu erkennen. Ich hätte auch Künstler und Intellektuelle vorzuschlagen, die ja aus der Beobachtung von politischer Gesinnungs- und Prinzipienlosigkeit einen eigenen Distinktionsgewinn zu schlagen neigen.

Kunst ist es, wenn du damit durchkommst, lehrte nicht Andy Warhol, sondern David Hockney, und angesichts dessen Oeuvre ist diesbezüglich Sorge unangebracht. Es handelt sich einfach um eine ironisch-elegante Geste der Selbstverkleidung, der jeder Betrachter von Hockneys Bildern sofort widerspricht.

Aber mir sind nicht wenige Belletristen untergekommen, die gar keine Texte abliefern können, sondern nur Mulm. Der Lektor oder Redakteur muss viele Stunden Arbeit investieren, damit daraus ein druckbarer Text entsteht. Der aber eigentlich eine Fälschung ist, denn er trägt einen anderen Autorennamen. Solche Belletristen agieren eigentlich als Hochstapler. Sie sind gar keine, ihre Arbeit tun die anderen, sie geben nur vor, Belletristen zu sein. Und denken dann gern auf der Bühne über den literarischen Betrieb nach, wie er von wem manipuliert wird und von ihnen manipuliert werden könnte. So wie Dr. Kohl über die Manipulationen nachdenkt, mittels deren die Sozen im parlamentarischen Betrieb sein Oeuvre um seinen Ruhm bringen wollen.

Also Obacht. Verwahrloste sind wirklich überall auszumachen. Und weil Verwahrloste nur Verwahrlosung kennen, ist es ganz sinnlos, ihnen mit Prinzipien- und Gesinnungsfestigkeit zu begegnen und Umkehr zu predigen. Sie werden mutmaßen, du stehst im Dienste der SPD oder der Familie Barzini.

Mehr Nutzen bringt es vermutlich, wenn man in das unendliche Spiel der Umdeutungen, Verleugnungen und Gegenangriffe überhaupt einzusteigen sich weigert. Denn wer drin ist, kommt nie wieder raus. Deshalb empfiehlt es sich, Verwahrlosung auf Anhieb zu erkennen und sich die Fortsetzung der Kommunikation einfach zu ersparen. Viel Glück.

Hinweise:Kunst ist es, wenn du damit durchkommst, lehrte nicht Andy Warhol, sondern David HockneyUnter dem Aspekt des Familialismus passt Frau Hürland-Büning mit Michael Corleone zusammen