Hartes Geschäft

Mit ICANN das Internet dem Einfluss von Regierungen entziehen

von CHRISTIAN AHLERT

Zu den Gründungslegenden des Internets gehört noch immer die grenzenlose Freiheit des Cyberspace. Niemand, so verkündeten seine Propheten vor etwa 15 Jahren, könne das weltweite Netz der Netze kontrollieren, denn es gehöre allein seinen Benutzern, die sich darin nach ihren selbst gesetzten Regeln über alle Grenzen hinwegbewegen.

„Direktdemokratie“

Die Realität sah schon immer ein wenig anders aus. An die reine Anarchie mögen heute nur noch wenige Idealisten glauben. Mit der Kommerzialisierung des Netzes sind Probleme entstanden, die nicht mehr von der beschaulichen Gemeinde überwiegend akademischer Pioniere gelöst werden können. Staaten und Wirtschaftsunternehmen verlangen gleichermaßen nach Kontrolle und verbindlichen Regeln.

Regierungen wollen den Handel im Internet besteuern, den Datenschutz durchsetzen und Inhalte, die in ihren Territorialgrenzen strafbar sind, auch im Cyberspace verfolgen. Die Industrie, die sich mit dem „Global Dialogue on Electronic Commerce“ (www.gbde.org) ihr eigenes weltweites Forum geschaffen hat, verlangt vor allem nach einem international verbindlichen Schutz von Urheberrechten und fordert den Abbau aller nationaler Vorschriften, die dem globalen Datenaustausch hinderlich seien. Im Gegenzug verspricht sie den Regierungen, auf dem Wege der freiwilligen Selbstkontrolle gegen unerwünschte Inhalte vorzugehen, etwa indem sie Filter gegen Pornografie zur Verfügung stellt.

Gegen die Ansprüche von Regierungen wie von Wirtschaftsverbänden verteidigen Netzaktivisten weiterhin das Recht auf Meinungsfreiheit und den Schutz der Privatsphäre. Sie haben durchaus Erfolg, denn ganz falsch war ja nicht, was die Pioniere einst versprachen: Bisher gelang es nicht, weltweit wirksame Regelungen durchzusetzen, die über die technischen Grundlagen des Internets hinausgehen.

Doch auch die technischen Funktionen des Datenaustausches zwischen Computern, für die sich bisher außer Fachleuten nur begeisterte Freaks interessiert haben, sind zu einem weltweiten Problem mit politischer Sprengkraft geworden. Morgen beginnt im japanischen Yokohama eine Konferenz, auf der zwei Gremien Entscheidungen über die weitere Entwicklung des Internets treffen wollen: die „Internet Society“ (ISOC) und die erst vor zwei Jahren gegründete „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ (ICANN, www.icann.org).

ICANN ist inzwischen über den Kreis der Netzexperten hinaus bekannt geworden. Das liegt weniger an der nicht eben leicht zu verstehenden Aufgabe, die sich diese Organisation selbst gegeben hat, als vielmehr daran, dass sie sich selber mit allgemeinen Wahlen legitimieren will, die sie im Internet durchführt: ein Experiment, das vor allem Politologen fasziniert. Der Deutsche Claus Leggewie etwa spricht von einer „weltweiten Direktdemokratie“, die ohne historisches Vorbild sei. Regierungen, mit Ausnahme der US-amerikanischen, haben die Kampagne, die seit letztem Herbst mit bislang bescheidenem Erfolg im Gange ist, eher skeptisch beobachtet. Sie können nicht völlig übersehen, dass ICANN von Präsident Clinton und seinem Berater Ira Magaziner vor allem gegründet wurde, um Schlüsselfunktionen des Datenverkehrs weiterhin der Oberaufsicht der USA zu unterstellen.

Nun wolle ICANN zwar keine Regierung sein, so versichert seine amtierende Direktorin Esther Dyson. Im Wortsinne hat sie Recht, dennoch ist das nach kalifornischem Recht als „Non-Profit-Organisation“ verfasste Gremium ausgewählter Experten heute die wichtigste zentrale Kontrollinstanz des Internets. Ein „Board“ von Direktoren, dem drei Beraterstäbe zur Seite stehen, soll von diesem Herbst an offiziell das System der weltweiten Internetadressen verwalten und koordinieren.

ICANN sitzt damit an der Wurzel des Supermediums. Um seine Funktion zu erfüllen, wird ICANN unter anderem den zentralen Rechner überwachen, der als Referenz für die jeweils gültigen Adressen dient. Kritiker wie etwa der US-amerikanische Rechtswissenschaftler David Post haben von Anfang an davor gewarnt, dass damit eine über die technische Verwaltung weit hinausreichende Macht etabliert wird, die zum Missbrauch geradezu einlädt. Das Argument ist bestechend: Wer die letzte Kontrolle über die Vergabe der Netzadressen hat, kontrolliert auch, wer Zugang zu diesem Medium hat und was seine Benutzter damit tun und lassen.

Vor allem die Regierungen der EU hätten die Verwaltung der Internetadressen weit lieber einer transnationalen Behörde, etwa unter dem Dach der UNO, überlassen. Mit der Gründung von ICANN aber stellten die USA klar, dass sie einer solchen Lösung niemals zustimmen werden. Nach den geltenden Statuten von ICANN dürfen Regierungen lediglich Vertreter in eines der untergeordneten Beratergremien entsenden, das kein Stimmrecht besitzt. Das allein entscheidungsbefugte Direktorium soll aus 19 formell unabhängigen Mitgliedern bestehen: 18 Direktoren sollen zur Hälfte von ICANN in das Amt berufene Fachleute sein, zur Hälfte aus Wahlen hervorgehen, die weltweit und online durchgeführt werden. Um Pattsituationen zu vermeiden, werden die Direktoren ein weiteres Mitglied hinzuwählen, das den Vorsitz führt.

Begründetes Misstrauen

Überdeutlich besteht der Zweck dieser Konstruktion vor allem darin, das Internet dem unmittelbaren Einfluss von Regierungen zu entziehen. Stattdessen sollen sich Fachleute aus Universitäten und Unternehmen der Informationstechnik die Kontrolle mit Vertretern der Nutzer teilen. Nicht weniger deutlich ist aber zu erkennen, dass die gewählten Direktoren kaum mehr als ein Feigenblatt für die fehlende internationale Legitimation sind.

Nicht zuletzt deswegen ist es ICANN bisher schwer gefallen, seine Internetwahlen populär zu machen. So sind alte Netzhasen nur mäßig begeistert von dem politischen Experiment, das ihnen ICANN verordnet hat. Im Ernstfall könnten die Vertreter des Cybervolkes jederzeit überstimmt werden, und obendrein hat ICANN selbst alles getan, um Misstrauen zu schüren: Ursprünglich sollte das Wahlvolk nach US-Vorbild lediglich ein Wahlmännergremium bestimmen dürfen. Nach langen Diskussionen wurde wenigstens eine unmittelbare Wahl der Volksvertreter zugelassen, aber noch immer ist reichlich unklar, wie und nach welchem Wahlrecht sie denn abgehalten werden soll.

Internethandel

In Yokohama immerhin sollen nun die näheren Bedingungen für mögliche Kandidaten festgelegt werden. An der Wahl teilnehmen kann jede Person, die mindestens 16 Jahre alt ist, eine E-Mail-Adresse besitzt und (zur Kontrolle) eine Postanschrift nachweisen kann. In Deutschland haben sich immerhin etwa 8.000 künftige Netzbürger registrieren lassen. Was sie nun tun sollen, wissen sie freilich nicht so recht. Online-Foren, in denen sie untereinander und über mögliche Kandidaten diskutieren könnten, gibt es bisher nicht.

Es geht weniger um ein demokratisches Experiment als um ein hartes Geschäft. Mit seiner Oberaufsicht über die Internetadressen entscheidet ICANN auch darüber, ob über die heutigen Endungen der Web-Adressen wie „.com“, „.org“ oder „.net“ hinaus auch weitere kommerziell nutzbare Kürzel eingeführt werden sollen. Vorgeschlagen sind etwa „.bank“ oder „.shop“, aber von Kommerzkritikern auch „.union“, „.protest“ und – „.sucks“.

Lobbyisten der Unterhaltungsindustrie versuchen heute, den Schutz geistigen Eigentums selbst noch in der Nomenklatur dieser so genannten Top-Level-Domains zu verankern. Weniger umstritten waren bisher die Länderkennzeichen wie „.de“. Doch die EU-Kommission möchte auch hier eine Reform durchsetzen und fordert die Einführung von „.eu“. Tatsächlich steckt hinter den Länderkennzeichnungen aber ein folgenreicher politischer Konflikt. ICANN muss in Yokohama auch das rechtlich undefiniertes Verhältnis zu all den Institutionen klären, die in den jeweiligen Ländern die nationalen Adressenendungen vergeben. Die Forderungen der Regierungen liegen auf dem Tisch: Sie wollen, dass in den anstehenden Verträgen auch Fragen des Datenschutzes und des Urherberrechts berücksichtigt sind – Fragen also, mit denen sich ICANN offiziell gar nicht befassen will.

So sauber lassen sich Technik und Politik jedoch schon lange nicht mehr trennen. Letzte Woche trafen sich die Finanzminister der G 7 im japanischen Fukuoka, um den bevorstehenden Weltwirtschaftsgipfel auf Okinawa vorzubereiten. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Besteuerung des Internethandels.

Zuvor hatte die Europäische Kommission die Erhebung der Umsatzsteuer beim Internethandel mit Software, Videos und Musik vorgeschlagen. Noch wehrt sich die US-Regierung gegen solche Forderungen. Andere Regierungen könnten sich jedoch ausgerechnet von ICANN das Recht einräumen lassen, ihre länderspezifischen Netzadressen an die Anerkennung der jeweiligen nationalen Steuerhoheit und beliebiger weiterer nationaler Gesetze zu binden. Christian-Ahlert@harvard.edu