Der schleichende Ausverkauf

Das Dorf Neuenfelde ist gespalten: Die einen wehren sich gegen die geplante Erweiterung des Dasa-Geländes. Die anderen freuen sich darüber

aus Hamburg-Neuenfelde HEIKE HAARHOFF

Als der Verkehrsspiegel gegenüber ihrer Einfahrt eines Morgens verbeult und blind war, dachte sie an nichts Böses. Nur lästig war es, denn fortan stand sie oft zehn Minuten bei laufendem Motor mit dem Traktor auf ihrer Grundstücksgrenze – ohne Spiegel ist die Straße vor dem Hof in Hamburg-Neuenfelde schwer einsehbar. Auch das Vorhängeschloss am Gatter, das ein Wochenende lang Fluchtweg und Feuerwehrzufahrt zu ihrem Anwesen verriegelte, wertete sie als Dummejungenstreich. Bis ihre Tochter an jenem Abend von der Dorfdisco heimkehrte und „tierisch angemacht“ worden war.

Weshalb ihre Eltern, „diese Arbeitsplatzvernichter“, nicht endlich einsichtig wären, musste sie sich fragen lassen. Weshalb sie sich weigerten, ihren Hof an die Stadt Hamburg zu verkaufen. Weshalb sie stattdessen gegen den A 3XX klagten, das Superflugzeug der Zukunft, das die Dasa mit großem Lärm nahe ihrer Haustür bauen und so im Airbus-Werk in Finkenwerder angeblich 2.000 zusätzliche Jobs schaffen will.

Nachts kommen die Anrufe

An jenem Abend überlegte die Bäuerin Hannelore Reimer, die für die Zeitung bewusst einen falschen Namen gewählt hat, „weil schon so viel passiert ist“, an jenem Abend also fragte sie sich, ob es einen Zusammenhang geben könne zwischen dem Spiegel, dem Gatter, den Vorwürfen gegenüber ihrer Tochter und den anonymen Anrufern, die sie seit einigen Wochen nachts aus dem Schlaf reißen und wahlweise als „Nazi-Schwein“ oder als „Arbeitsplatzvernichter“ beschimpfen.

Die Polizei hat sie nicht eingeschaltet. „Wenn herauskäme, dass ich Anzeige erstattet hätte, würde das alles nur noch schlimmer machen.“ Hannelore Reimer weiß, dass sie eine Minderheitenposition vertritt. Seit Ende Juni die Vorstände des europäischen Luft- und Raumfahrtgiganten EADS dem noch bis Mitte der 90er-Jahre kriselnden Flugzeugwerk in Hamburg-Finkenwerder den Zuschlag für Lackierung und Innenausstattung des A 3XX erteilten, ist es, als könne bestenfalls der Kölner Karneval die allgemeine Stimmung des Frohsinns in der Hansestadt überbieten.

Der A 3XX, der weltgrößte Passagierflieger, der Airbus der Superlative mit erstmals zwei Stockwerken, Bar, Casino und Friseursalon, die Titanic der Lüfte, und das alles in Hamburg – Prestigedenken und Lokalpatriotismus scheinen jeden Zweifel darüber ausgelöscht zu haben, ob Hamburg tatsächlich der geeignete Montagestandort sei. Bei den meisten jedenfalls.

Dass Europas größtes Süßwasserwatt, das Mühlenberger Loch, für die Verlängerung der Flugzeuglandebahn zu einem Fünftel trockengelegt werden muss, erschreckt höchstens Naturschutzverbände vor Ort. Die EU-Kommission hält dies „aus zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses für gerechtfertigt“. Dass die Stadt bereit ist, 1,8 Milliarden Mark in die Herrichtung eines privatwirtschaftlichen Werkstandorts zu investieren, wird möglicherweise den Landesrechnungshof interessieren, wenn die Ausgaben getätigt sind. Dass darüber hinaus Hannelore Reimer sich Sorgen macht um die Zukunft ihres Dorfes Neuenfelde an der Grenze zum Dasa-Werk, wird als „Spinnerei“ abgetan.

Denn von „drohender Absiedelung“, von der Hannelore Reimer und das „Schutzbündnis für Hamburgs Elbregion“ sprechen, könne keine Rede sein, beschwichtigt die Wirtschaftsbehörde. Sie ist für alle Planungsfragen zuständig und verweist darauf, dass die 5.191 Neuenfelder durch den Bau des A 3XX zwar mit zusätzlichem Fluglärm rechnen müssten, keineswegs aber mit dem Verlust ihres Grund und Bodens.

Weshalb dann seit dem vergangenen Herbst Vertreter der städtischen Liegenschaft wie Detektive durchs Dorf schleichen und die Neuenfelder Obstbauern in Einzelgesprächen zum Verkauf ihrer Höfe drängen, dafür gibt es keine offizielle Erklärung. Es geht darum, potenziellen Klägern gegen die Dasa-Werkserweiterung frühzeitig das Recht auf Klage – Wertminderung des Grundstücks – zu nehmen, wird kolportiert.

„Es geht darum, dass die Stadt vorhat, die Landebahn weit über das jetzt genehmigte Maß hinaus zu verlängern“, sagen die Rechtsanwälte Rüdiger Nebelsieck und Peter Mohr, die 175 Sammelkläger gegen den A 3XX vertreten.

Die Stadt will die Äcker haben

Dafür brauche die Stadt die Neuenfelder Äcker. Ihre Annahme ist nicht ganz abwegig: Aus Broschüren von Airbus Industries geht hervor, dass lediglich die Grundvariante des A 3XX auf der jetzt genehmigten, 2.684 Meter langen Landebahn starten und landen kann. Alle anderen A 3XX-Typen bräuchten mehr Platz. Und notfalls, das hat die Stadt bereits mündlich zugesagt, werde die Bahn auch auf 3.500 Meter verlängert.

Die würde dann haarscharf an der Neuenfelder Kirche von 1682 vorbeiführen und quer durch den Vorgarten von Hannelore Reimer. „Was ist ein Bauernhof ohne Land?“, fragt die. Auch bei ihr sind die städtischen Grundstückskäufer schon vorstellig geworden. Die Reimers lehnten ab. Seit 300 Jahren bewirtschaftet die Familie den Hof. Schon einmal haben sie ganz von vorn anfangen müssen, nach der Sturmflut von 1962. „Noch einmal, und dann noch in ganz fremder Umgebung, das packe ich nicht“, sagte Hannelore Reimer.

Vier ihrer Nachbarn haben ihre Grundstücke bereits verkauft, mit jedem weiteren, der geht, wachsen Druck und Zweifel bei den Zurückbleibenden, die immer noch finden, dass es klüger sei, das Flugzeug dort zu bauen, wo die Naturschäden geringer und die Arbeisplätze dringender nötig wären: beispielsweise in Rostock, der unterlegenen Mitbewerberin um den A 3XX.

925.000 Mark, prahlt einer, habe er allein für sein hutzeliges Einfamilienhaus von der Stadt erhalten. Solche öffentlichen Bekenntnisse sind freilich die Ausnahme. Neuenfelder Obstbauern gelten als wortkarg, und über Geldgeschäfte reden sie so viel wie Priester über Beichtgeheimnisse. Die Verhandlungsführer der Stadt, sagt die Tochter eines Landwirts, der in der Einflugschneise wohnt, wissen diese Mentalität zu nutzen: „Sie gaben uns zu verstehen, dass der angebotene Kaufpreis sinken könne, sollten wir darüber mit Dritten reden.“ Sie verstanden.

Es ist „diese miese Verunsicherungstaktik“, die Gabi Quast antreibt. Fast täglich zieht die Sprecherin des Schutzbündnisses durch das weitläufige Straßendorf, mal auf dem Fahrrad, mal im Auto, verteilt Flugblätter mit Aufrufen zur nächsten Deich-Demo an Haushalte, die „Keine Werbung“ wünschen und zur „Vorsicht vor dem Hunde“ raten. In der Drogerie erinnert sie an die Schutzwürdigkeit der jahrhundertealten, reetgedeckten Backsteinhäuser, ignoriert die flehenden Blicke der Kassiererin, die weiß, dass im Laden auch Dasa-Beschäftigte einkaufen.

„Wir brauchen Zusammenhalt“

Aber Gabi Quast ist noch nicht fertig, sie verflucht das Kerosin aus den Flugzeugen, das ihr, der Biolandwirtin, bald die Ernte verderben könnte. In den Frisiersalon steckt sie kurz den Kopf hinein, um fröhlich zu bemerken, mit der Sammelklage sei jetzt alles in Ordnung, abends schickt sie vier Kinder ins Bett und organisiert anschließend Informationsveranstaltungen, ermuntert zwischendurch am Telefon ihre Nachbarn, sich nicht von der Stadt austricksen zu lassen, bis es ihr irgendwann erschöpft entfährt: „Wir brauchen Zusammenhalt, eine gemeinsame Strategie.“ Gabi Quast weiß: Hat ihre Bürgerinitiative nicht bald einen Erfolg vorzuweisen, dann droht die fragile Front zu bröckeln.

Die öffentliche Unterstützung, die das Schutzbündnis erfährt, ist bereits jetzt mager. Die Zeiten, da Autonome aus dem Hamburger Schanzenviertel und bürgerbewegte Ökos aus den Innenstadtvierteln ausrückten, um gegen AKWs oder kommerzielle Großprojekte zu demonstrieren, sind vorbei. Die Grün-Alternative Liste, deren Gründungsgeschichte eng verknüpft ist mit der Absiedlung zweier Dörfer für den Hafenausbau, sitzt mittlerweile in der Hamburger Regierung und glaubt, mit ihrem Schweigen zu Neuenfelde die Wiederwahl zu schaffen. Und die unerwartete Unterstützung seitens der Blankeneser Juristen, Banker und Firmenchefs vom gegenüberliegenden Elbufer werde auch versiegen, sobald der wohlhabende Stadtteil in der nördlichen A 3XX-Einflugschneise besseren Lärm- und Sichtschutz für sich durchgesetzt habe, glauben zahlreiche Neuenfelder Bauern.

Selbst im Dorf ist die Initiative umstritten. Es gibt in Neuenfelde praktisch keine Familie, die nicht Angehörige oder mindestens sehr gute Bekannte bei der Dasa hätte. Und je höher die Abhängigkeit, desto schwerer fällt es, öffentlich zu dem zu stehen, was man denkt. Der Bauzeichnerin beispielsweise. Auch bei ihr kein Name, kein Foto. Sie ist allein im Büro. Wie eigentlich immer, seit sie sich selbstständig gemacht hat. Vorsichtshalber senkt sie trotzdem die Stimme: „Wenn ich ganz ehrlich bin, dann fühle ich mich wie eine Prostituierte, denn ich unterschreibe Listen gegen den A 3XX und nehme immer noch Aufträge von der Dasa an.“

Was, wenn das herauskommt? Schlimmstenfalls, das ist auch ihr klar, könnte es ihr ergehen wie dem örtlichen Getränkehändler: Dem wurden kürzlich alle Saftlieferungen an die Dasa-Kantine ohne Angabe von Gründen gekündigt. „Dabei habe ich mich nie aktiv in den Streit um die Werkserweiterung eingemischt“, beteuert der Händler, ahnend, dass das Ende des Geschäftsverhältnisses trotzdem etwas mit dem A 3XX zu tun haben muss.

„Die Frage ist, ob man dieses Risiko eingeht“, sagt die Bauzeichnerin. Und dann ist sie doch da, zwei Tage später bei den gut 100 Leuten, die hoch oben vom Deich dem Dasa-Werk mit bemalten Bettlaken drohen: „Sieh dir an, wie Hamburg baut – und dir deinen Lebensraum versaut.“ Das sind zwei Silben zuviel hinterm Gedankenstrich, als dass man den Slogan skandieren könnte. Sei’s drum. Es wird nicht ihr letztes Transparent sein.