Alles pur Natur

Der Kindheitsfilm „Vive la Provence“ ist idyllisch, aber auch ein kleines bisschen verlogen

Die Provence ist schön. Das lernten früher alle Teenager, die statt Tretrollern oder Computern diese Dumont-Kunstbände mit impressionistischen Malern geschenkt bekamen, um zu lernen, dass die Welt schön ist. Der 35-jährige Regisseur Christian Philibert kommt aus dem Département Var und liebt seine Heimat, die er bislang in sieben kürzeren Filmen thematisierte.

Sein achtes, das erste abendfüllende Werk spielt in dem Dorf, in dem er aufwuchs. „Vive la Provence“ ist ein halbdokumentarischer Spielfilm. Die Bewohner des Dorfes, Männer und Frauen mit markanten Gesichtern, spielen sich selbst, inszenieren kleine Episoden oder werden ein wenig inszeniert, um die „Vision“ des Regisseurs von seiner „Kindheit“ wieder einzufangen.

Das Material, aus dem der Film besteht, hat Christian Philibert in zehn Jahren gesammelt. „Alles ist echt außer dem Namen des Dorfes.“ Im Zentrum des Dorfes steht die Kneipe. Hier trifft man sich, hier ist man froh, und ein jeder hat seine Geschichte, die ihn so formte, als sei der Mensch Natur. Es gibt den verkannten Dichter, einen älteren Herrn, der bei allen passenden und unpassenden Gelegenheiten und immer gegen den Lärm der Ignoranten seine Verse vorträgt. Eine romantische Figur, wie man sie aus tausend russischen Filmen kennt.

Es gibt den Landschaftsmaler, der seine Farben aus der Erde der Provence herstellt und sich immer gerne etwas abseits hält, es gibt den langhaarigen Imker, der magischen Honig herstellt und stolz auf seine Haare ist, die nicht fettig werden oder zu stinken anfangen, obgleich er sie nur alle paar Wochen wäscht. Ein Zahnarzt untersucht die Gebisse seiner Patienten am Kaffeehaustisch. Jäger erzählen von der Jagd, die Mütter konkurrieren beim Hasenbratenwettbewerb miteinander, drei kichernde Jungmänner rennen bei Vollmond immer gerne kurz in den Lichtkegel entgegenkommender Autos, um als Werwolf die Fahrer zu erschrecken.

Das Leben nimmt zyklisch seinen Gang: Herbst, Winter, Frühling, Sommer; Boule spielen in Slowmotion, Fahrradfahren in der Sonne, Autos reparieren mit viel Liebe und zwischendurch was singen. Nebel über Graslandschaften. Alles ist sehr ruhig, idyllisch und unbeschädigt von der Nervosität großstädtisch verunstalteter Menschen.

Er habe „Archetypen“ aus den Bewohnern machen wollen, sagt der Regisseur. Dieses Pathos echter, naturwüchsiger Menschen nervt zuweilen. Die ländlichen Typisierungen, in denen Frauen selten als Einzelne vorkommen, sorgen zwar für den Fortgang der kleinen Alltagsepisoden, haben aber gleichzeitig, nun ja: etwas Verlogenes, was man vielleicht auch nur als nervöser Großstadtmensch so wahrnimmt. In diesem Hang zur Archetypisierung erinnert „Vive la Provence“ an zahlreiche semidokumentarisch-ländliche Filme aus Russland, die in den letzten Jahren auf tausend Festivals ausgezeichnet wurden. Einen gewissen Charme hat das alles trotzdem.

DETLEF KUHLBRODT

„Vive la Provence – Ein Jahr in Espigoule“ Regie: Christian Philibert. Frankreich, 1999. 97 Min, OmU. Filmbühne am Steinplatz, fsk am Oranienplatz und Hackesche Höfe