Der Berg, der windumtoste

21 Kilometer lang geht es hinauf zum Gipfel aus Vulkangestein. Auf dem mythischen Mont Ventoux in der Provence endet seit elf Jahren wieder eine Etappe der Tour de France. Der Berg im taz-Test

von MATTHIAS NESKE

„Ein Mythos, ein Mythos, was ist schon ein Mythos“, fragt Richard und fixiert mit seinen Augen den Berg am Horizont, von dem ich gerade behauptet hatte, er sei genau dies. „Ich war schon mindestens 20-mal oben, und das Einzige, was mythisch ist, wird dein Muskelkater am nächsten Tag sein. Du keuchst, du schwitzt, du denkst, deine Beine sind aus Gummi, und wenn du endlich oben bist, zitterst du im eiskalten Wind. Also rollst du gleich wieder runter. So ist das. Von wegen Mythos.“

Warum Richard dann aber doch immer wieder hochfährt, nicht ohne sich – wie er betont – mindestens eine Woche lang gedanklich auf das Unternehmen vorzubereiten, kann er auch nicht so genau erklären. „Mein Großvater hat es getan, mein Vater auch, mein Bruder hat es zumindest versucht. Und wenn du hier wohnst und jeden Tag diesen Koloss vor dir siehst, dann probierst du es einfach. Es gehört eben dazu.“

Wie profan. So möchte ich meinen Versuch, den Berg der Berge zu bezwingen, auf keinen Fall angehen. Unterstützung erhalte ich dabei aus berufenerem Munde. Tony Rominger, der große Schweizer Rennfahrer, erklärte in einem Interview, als feststand, dass der Mont Ventoux in diesem Jahr endlich wieder auf dem Tourplan steht: „Das ist großartig! Großartig und gleichzeitig fürchterlich. Für den Fahrer ist der Ventoux immer fürchterlich. Und du weißt das ... Der Berg ist einfach zu lang und zu steil ... Aber wenn du oben bist, dann weißt du noch etwas: Du hast gerade eben keinen Berg bezwungen, sondern einen Mythos.“

Das sind Informationen ganz nach meinem Geschmack. Aber auch solche, die mir mein Scheitern deutlich vor Augen führen. Schließlich bin ich kein Radrennfahrer, sondern ein Freizeitradler. Meinen höchsten Berg habe ich bislang im Harz bezwungen, 600 Meter. Der Ventoux ist mehr als doppelt so hoch. Und um das Unternehmen endgültig fragwürdig zu machen, benutze ich auch keine leichte Rennmaschine, kein schickes Mountainbike, lediglich ein Herrenrad aus sächsischer Produktion. Das kann ja heiter werden.

Der Morgen, den ich auserkoren habe, empfängt mich ganz und gar nicht heiter. Ein dichter Schleier liegt über dem Land, vom Ventoux nichts zu sehen. Zu zögern aber hieße, nie hinaufzukommen. Also fahre ich los. Es gibt drei Möglichkeiten, den Gipfel des Mont Ventoux zu erreichen. Eine Straße führt von Sault aus westlich auf den Kamm; das ist die leichteste Variante, denn in Sault befindet man sich immerhin schon auf 800 Meter Höhe. Die nächste Route erscheint mir am schlimmsten. Sie führt auf einem holperigen und schmalen Sträßchen von Bedoin aus auf den Gipfel. Ich wähle daher die dritte Strecke, die in Malaucène startet und sich zumindest durch einen glatteren Straßenbelag auszeichnet. Was bleibt, ist der steile Anstieg. Malaucène liegt auf 300 Meter Höhe, der Ventoux endet bei 1912 Metern.

Steinwüste am Gipfel

Als ich endlich die Steigung erreiche, die mich bis zum Gipfel begleiten wird, muss ich unwillkürlich an Tom Simpson denken, den englischen Fahrer und wohl ersten nachgewiesenen Dopingtoten im Radsport. Im Jahr 1967 war es, und seitdem hinterlässt jeder Fahrer, der an dem in der Steinwüste unweit des Gipfels gelegenen Gedenkstein vorbeikommt, ein persönliches Utensil. Das kann ein verschlissener Rennhandschuh sein, ein alter Schlauch, ein Trikot oder auch ein Zettel mit krakeliger Schrift. Darauf geschrieben: „Wir haben Dich nicht vergessen.“

Richards Vater stand damals am Straßenrand, als Simpson sich den Berg hochquälte. „Er wurde immer langsamer, dann fuhr er in Schlangenlinien, kam direkt an mir vorbei. Andere Leute versuchten ihn aufzumuntern, sie schoben in an, sie wollten ihn fast hochtragen. Aber als ich ihn sah, da wusste ich, was los war. Der ist am Ende, schrie ich, nehmt ihn vom Rad, der kennt seinen Namen nicht mehr! Und so war es auch.“

Ich nehme nur Müsliriegel und Wasser zu mir, das muss genügen. Erstaunlich leicht und guten Mutes gehe ich die ersten Meter an. Neben der Straße befindet sich alle 1.000 Meter ein Schild, das die Höhe anzeigt. So weiß ich zumindest immer, wie viel ich noch zu strampeln habe. Außerdem lenke ich mich regelmäßig ab, indem ich nach jedem Schild die Steigungsprozente des vergangenen Kilometers auszurechnen versuche. So passiere ich zwei Mountainbiker, die wesentlich erschöpfter aussehen als ich, „bonjour, bonjour“, man grüßt sich als Radler.

Schmerzen am Po

Auf 1.000 Meter Höhe beginnt die Tortur schließlich, allerdings völlig anders als befürchtet. Da der Lenker meines Fahrrads so hoch steht, was an sich auf flachen Strecken sehr angenehm ist, aber nicht bei zehn Prozent Steigung, hänge ich mit dem Hintern immer sehr weit nach unten, direkt auf der Kante des Sattels. Nach und nach fängt es immer schlimmer an zu schmerzen, es ist fast so, als würde ich auf einer spitzen Eisenstange sitzen. Als ich endlich absteige, wundere ich mich einerseits, wie tief das Land unter mir liegt, das plötzlich zwischen zwei Wolkenbänken auftaucht. Andererseits fühle ich mich wie eingerostet, stakse umher und mache ein wenig Gymnastik. Vor dem Start hatte ich darauf verzichtet, nun rächt es sich.

Fluchend setze ich mich wieder auf das Rad, ein unmöglicher Grund, ein solches Unternehmen zum Scheitern zu bringen. Ein schmerzender Hintern, das dürfte ich niemandem erzählen. Mittlerweile sind auch die Mountainbiker wieder an mir vorbeigefahren, ich werde sie nicht wieder sehen. „Thierry“ steht mit großen weißen Lettern auf die Straße geschrieben. Hier standen sie, die Fans irgendeines lokalen Helden und haben ihm zugerufen. „Bonjour“ höre ich da, und schneller als ich es für möglich gehalten hätte, flitzt ein ebensolcher Thierry wahrhaftig an mir vorbei.

Glücklicherweise scheinen sich meine Muskeln mit der Zeit einzurenken, und so fahre ich in gleichmäßigem Tempo immer höher. Die Sicht nach unten ist atemberaubend, der Gipfel hüllt sich aber in Wolken. „Ventosus“ haben die Römer den Ventoux genannt, „der Windumtoste“. Nicht zu Unrecht, denn als Rekordwert wurde auf dem Berg eine Windgeschwindigkeit von 320 km/h gemessen. Heute ist von alldem nichts zu spüren, die Bäume und Büsche wiegen sich nur leicht im Wind.

Zu früh gefreut. Als ich aus der Waldzone herauskomme und den kahlen Gipfelbereich in Angriff nehme, ändert sich das Wetter urplötzlich. Nicht allein, dass mir die Beine langsam schwer werden, denn die Steigung geht in der Tat immer weiter und weiter, hinter jeder Kurve scheint es noch steiler zu werden. Nun pustet mir auch noch der legendäre Wind frontal entgegen. Bislang habe ich mich ja ganz tapfer gehalten, aber nun, nur noch 200 Höhenmeter vom Ziel entfernt, schwindet mein Mut allmählich. Die Beine brennen und werden langsam immer weicher, kein schützender Strauch hält diesen verdammten Wind ab, der natürlich ständig von vorn kommt.

Labbrige Muskeln

In einem nicht gerade atemberaubend hohen Tempo passiere ich die Aussichtsplätze, an denen die Autotouristen stehen und mir mitleidig zusehen. Aber schließlich ist es doch geschafft, mit letzter Kraft. Dabei ist es gar nicht so sehr die pfeifende Lunge. Atemprobleme hatte ich auf der ganzen Strecke eigentlich nie. Nur die Beine wabbeln wie Pudding, als ich mich mühsam von meinem für dieses Unterfangen viel zu hohen Rad herunterziehe. Triumph! Mich umfangen zwei bis drei mythische Minuten, ich habe es tatsächlich geschafft!

Viele waren schon vor mir an dieser Stelle, viele werden es auch nach mir noch sein. Der erste, der den Aufstieg zum Ventoux beschrieben hat, war Francesco Petrarca. Im April 1336 bestieg er zusammen mit seinem Bruder den Gipfel, und ein wenig ging es ihm wie mir, wenn ich auch allein war: „Mein Bruder strebt auf einem Abkürzungspfad geradewegs auf das Bergjoch zu, zur Höhe. Ich dagegen, der ich weichlicher bin, wende mich nach unten ... Aber durch Menschen Geist wird die Natur der Dinge nicht aufgehoben, und es kann nun einmal nicht geschehen, dass irgendein körperliches Wesen durch Hinabsteigen zur Höhe gelangt ... Ich schaute mich um und sah nun wirklich das, was zu sehen ich hergekommen war. Der Grat des Pyrenäengebirges ist nicht zu erkennen, hingegen sah ich klar zur Rechten die Gebirge der Provinz von Lyon, zur Linken sogar den Golf von Marseille, wo doch all dies einige Tagesreisen entfernt ist. Die Rhône lag mir geradezu vor Augen?“

Schön wäre es, würde ich auch diesen Blick haben. Das Rhônetal kann man nur erahnen. Über dem Tal liegen dicke Nebelschwaden.Erst jetzt bemerke ich, wie kalt es hier oben sein muss. Raureif überzieht die kahlen Flanken, die Atemluft bildet kleine Wölkchen. Und plötzlich fange ich an zu frieren. Ich muss wieder runter. Ein wenig gebe ich Richard Recht, das großartige Gefühl verfliegt ziemlich schnell, wenn es um einen herum derartig unwirtlich ist.

Die Fahrt nach unten ist ein ständiges Bremsen, links, rechts, links, rechts, auch hier gibt es keine Möglichkeit, das Rad einmal richtig rollen zu lassen. Die Kälte wird immer schlimmer. Ich zittere, der Wind pfeift, und meine Finger frieren steif. Fast fehlt mir die Kraft zum Bremsen. Dafür geht es bergab natürlich wesentlich schneller als bergauf. Bald erreiche ich mit zu Berge stehenden Haaren wieder die ersten Häuser von Malaucène. Ein Rennradler kommt mir dort entgegen, T-Shirt, kurze Hose. Der wird es so nicht schaffen, denke ich, zumal er schon erheblich keucht und das Wetter gar nicht gut aussieht. Ich möchte es ihm zurufen, bin aber schon vorbeigeschossen.

Wenige Kilometer hinter Malaucène ist für mich das Abenteuer zu Ende. Kaum bin ich abgestiegen, beginnt es urplötzlich zu regnen. Die Tropfen prasseln auf die Erde, an die Fensterscheibe. Selten bin ich glücklicher gewesen, ein Dach über dem Kopf zu haben. Mit leichtem Gruseln denke ich an all die tapferen Fahrer, die jetzt noch am Berg sind, durchweicht und verkühlt. Ich erinnere mich an Richard, der sagte: „Weißt du, es ist fast noch schöner, wieder unten zu sein. Du wirst es sehen.“ Der Badewanne sei Dank, zumindest das kann ich sofort nachvollziehen.