Zehn Mythen des E-Business

Der Goldrausch ist vorbei, an der Börse sinken die Kurse für Internetfirmen. Möglichst bunte Websites allein genügen nicht; es wird Zeit, realistische Strategien für die Zukunft des Internets zu entwickeln

von COLLIN COLE

Mythos 1: Um ins Internetgeschäft einzusteigen, müssen Sie an Ihren Firmennamen nur ein „.com“ anhängen.

Die ehernen Grundregeln des Geschäftslebens behalten ihre Gültigkeit. Ein Unternehmen muss erstens etwas anzubieten haben und zweitens eine Markenidentität aufbauen, die es von der Konkurrenz abhebt. Das gilt für den Laden in der Fußgängerzone wie für das Großunternehmen auf dem internationalen Markt – und selbstverständlich auch für die Internetfirma.

In Zukunft wird nicht generell zwischen im Internet vertretenen Firmen und nicht im Internet vertretenen Firmen unterschieden werden. Das Internet wird zum integrierten Bestandteil unserer Geschäftswelt. Damit wächst auch die Bedeutung der Multimedia-Designer – und ihre Verantwortung. Jede ihrer Entscheidungen wird des Geschäft des Kunden direkt beeinflussen. Bei einem Internetauftritt entscheidet eine Vielzahl von Faktoren über Erfolg oder Misserfolg: Das fängt bei der Gestaltung der Marke an und hört bei der Benutzerfreundlichkeit der Seite noch lange nicht auf. Die erste, grundlegende Frage muss allerdings der Kunde selbst beantworten: Gibt es für die Internetpräsenz seiner Firma überhaupt einen zwingenden Grund?

Mythos 2: Das Internet wird aus der Welt einen einzigen globalen Marktplatz machen (I.)

Lokale und regionale Märkte bieten enorme Möglichkeiten. Wer sein Produkt vor Ort auf den Punkt genau vermarkten möchte, wird in der Regel versuchen, seine Kunden über eine Art Nachbarschaftsverhältnis zu erreichen. Ein mittelständischer Sanitärbetrieb aus Köln-Nippes wird durch einen Internetauftritt nicht schlagartig zum Global Player. Nach wie vor bewähren sich serviceorientierte Firmen und Internetversionen traditioneller „brick-and-mortar companies“ am besten auf der lokalen Ebene. Es besteht kein Grund, warum sich das ändern sollte.

Mythos 3: Das Internet wird aus der Welt einen globalen Marktplatz machen (II.)

Weltweit gesehen ist die Verbreitung des Internets immer noch extrem gering. Nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung hat Zugang zu ihm. In vielen Teilen der Welt existiert bisher nicht einmal die nötige Infrastruktur. Das Internet, wie wir es heute kennen, ist außerdem kaum geeignet, die Bedürfnisse der Länder zu erfüllen, in denen kein Englisch gesprochen wird. Das Konzept, dass Englisch die allgemein gültige Sprache des Internets ist, greift zu kurz. Die Menschen wollen in ihrer eigenen Sprache die Nachrichten lesen und ihre Geschäfte tätigen.

Zur wirklichen Globalisierung wird es erst kommen, wenn Länder rund um den Erdball die Technologie vor Ort umsetzen und für ihre regionalen Belange und lokalen Märkte nutzen.

Mythos 4: Erfolgreich im Internethandel wird nur der sein, der die breite Masse anspricht.

Es gibt keine breite Masse an Käufern: „Massenmarkt“ ist ein überholter Begriff aus der traditionellen Werbung. Natürlich gibt es große Käufergruppen. Aber eine Firma, die erfolgreich sein will, muss bei ihrem Internetauftritt bedenken, dass sich diese Gruppen aus Millionen einzelner User zusammensetzen – mit eigenen Präferenzen, Bedürfnissen und individuellem Kaufverhalten.

Während die Auswahl geschäftlicher Inhalte und Serviceleistungen ständig wächst, wird der Einzelne weiter nach Wegen suchen, aus der Vielzahl der angeboten Informationen diejenigen herauszufiltern, die ihn auch wirklich interessieren. Den Designern und Entwicklern stellt sich damit die Aufgabe, die Inhalte so zu personalisieren, dass jeder User seine ganz persönliche Interneterfahrung kreieren kann. Die Entwicklung geht zu einer 1:1-Interaktion, bei der sich Firma und Kunde gewissermaßen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Das ist möglich – auch im Internet.

Mythos 5: Das Internet ist ein offener Marktplatz, der den Großen wie den Kleinen zugänglich ist. Jeder, der eine gute Idee hat, hat auch eine Chance.

Das Internet ist ein unorganisiertes Durcheinander von visuellem Müll. Es wimmelt dort nur so von schlechten Seiten. Entsprechend schwer fällt es, in diesem Getümmel auf sich aufmerksam zu machen.

Auch im Internet setzen sich in bestimmten Marktsegmenten deshalb letztlich die Großen durch. Wer online ein Buch kaufen möchte, geht wahrscheinlich erst zu Amazon. In dem Maße, wie traditionelle Firmen im Internet Fuß fassen, werden sie kleinere Anbieter verdrängen.

Das heißt nicht, dass allein die Höhe der Investitionen über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Firmen müssen heutzutage unablässig ihre Botschaft verbreiten. Erst eine starke Markenidentität kann das visuelle Chaos des Internets durchdringen und Aufmerksamkeit erregen.

In den kommenden Jahren wird es zu einer Konsolidierung bei den Marken und Webpages kommen. Die größeren Firmen werden in den kommerziell interessanten Geschäftssegmenten um die begrenzte Anzahl von „Portal“-Positionen kämpfen. Wer zu den Siegern zählen will, muss bereits jetzt die richtigen Entscheidungen treffen.

Mythos 6: In 15 Jahren wird die geschäftliche Nutzung des Internets den Usern zur zweiten Natur geworden sein.

Es gibt einen natürlichen Widerstand gegen Veränderung: Bis eine neue Technik Bestandteil des öffentlichen Lebens wird, kann sehr viel Zeit vergehen. Im Jahre 1903 hoben die Gebrüder Wright mit ihrem Motorflugzeug erstmals vom Erdboden ab. Erst 30 Jahre später kam es mit der Einführung des Warentransports zur ersten kommerziell sinnvollen Nutzung der neuen Technik. Bis zum Beginn der Passagierluftfahrt dauerte es dann noch einmal 20 Jahre. Und als das Fliegen für Geschäftsleute endlich zur Selbstverständlichkeit wurde, da feierte die Flugzeugtechnik bereits ihren 70. Geburtstag. Zum Vergleich: Das Internet wird gerade mal seit sieben Jahren als Geschäftsplattform genutzt.

Bis Internet und E-Commerce zum Alltagsgut gehören, haben wir also noch einen langen Weg vor uns. Die neue Technik wird sich erst dann durchsetzen, wenn auch technisch weniger beschlagene User mit ihr umgehen können. Für Designer und Entwickler heißt das: Sie müssen stärker darauf achten, die Seiten so zu gestalten, dass sie den Konsumenten die Teilnahme am E-Business durch eine intuitive Nutzung ermöglichen. Wenn die Menschen nicht imstande ist, sich auf einer Seite zurechtzufinden, dann sind die Designer ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden.

Mythos 7: Bald werden wir alle von zu Hause aus arbeiten und mit unseren Klienten über Videokonferenzen im Internet kommunizieren.

Es gibt keinen Ersatz für menschliche Interaktion und persönlichen Kontakt. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass Geschäftspartner und Kunden aus vielen unterschiedlichen Kulturkreisen zusammenkommen. Auch in den Büros und Agenturen gibt es längst ein multikulturelles Miteinander. Bei Frogdesign sind zum Beispiel allein in Deutschland bei 30 Beschäftigten 8 verschiedene Nationen vertreten. Das erfordert besondere Aufmerksamkeit für die Art, wie wir miteinander umgehen und kommunizieren. Gleiches gilt, wenn wir mit Klienten aus anderen Ländern oder Kulturen arbeiten. Vertrauen und persönliche Beziehungen bleiben Kernstück des Geschäfts.

Mythos 8: Das Internet wird das Fernsehen ersetzen.

Nicht das Internet, wie wir es heute kennen. Fernsehen und Internet sind zwei verschiedene Medien, die unterschiedliche Zwecke erfüllen und in verschiedenen Umfeldern angesiedelt sind. Eine Mischform wäre dem einen wie dem anderen Medium unterlegen. Jede der beiden Plattformen wird ihre Vorrangstellung für den Normalbürger behalten, bis eine radikalere Lösung gefunden ist.

Für die Fernsehgesellschaften stellt sich die Aufgabe, Konzepte zu entwickeln, wie sie von der neuen Technologie am besten profitieren und dem Zuschauer wirklich interessante Angebote machen können. Das Fernsehen einfach nur ins Netz zu stellen, das reicht auf keinen Fall.

Mythos 9: Das Netz wird die Zwischenhändler ausschalten und so alles, was wir kaufen, billiger machen.

Das Netz definiert lediglich die Kette zwischen Hersteller und Endverbraucher neu. Auch ein Laden im Internet ist immer noch ein Laden. Er kauft Waren von einem Hersteller oder Großhändler und verkauft sie an seine Kunden. Um das zu tun, muss er eine Internetseite entwickeln, sich einen Markt aufbauen, Werbung machen und eine Infrastruktur für sein Geschäft schaffen. Der Kunde bezahlt dafür, genau wie er es in der traditionellen Handelswelt tut. Und darüber hinaus zahlen wir oft noch Gebühren für die Auslieferung der Ware: Bequemlichkeit hat ihren Preis.

Mythos 10: Das Faszinierende am Internet ist, dass bald alles automatisiert sein wird.

Nur ein kleiner Teil der User wird in der Lage sein, die Möglichkeiten von E-Commerce und andere automatisierte Angebote – wie Avatare – zu nutzen. Und viele werden es auch gar nicht wollen.

In Zukunft muss die Bequemlichkeit des Internets mit starkem – virtuellem und realem – Service kombiniert werden. Dass Automatisierung allein nicht ausreicht, um den Kunden optimalen Service zu bieten, wird einem nahezu tagtäglich vor Augen geführt. Es genügt, zur Sparkasse zu gehen. Der Bankautomat ist nur ein schlechter Ersatz für das persönliche Gespräch mit den Bankangestellten. Er bietet keinen Service, er baut keine Beziehung zum Kunden auf, seine Funktionen sind arg beschränkt. All das trifft ohne weiteres auch auf das heutige Internet zu. Viele Webdesigner beginnen ihre Arbeit damit, dass sie fragen, was technisch möglich ist, statt zu fragen, was wirklich gebraucht wird. Am Ende entscheidet jedoch die Benutzerfreundlichkeit, nicht der technische Aufwand, der betrieben wurde.

Unsere Ideen und Visionen müssen die Technologie vorantreiben. Nicht umgekehrt.

CollinC@frogdesign.com