Die Innenwelt der Innenwelt

Wenn Menschen selbst zum Nummercode werden: Vincenzo Natalis existenzialistischer Sci-Fi-Horrorfilm „Cube“

Es beginnt wie ein existentialistisches Theaterstück. Acht Menschen finden sich in einem geschlossenen Raum wieder. Sie wissen nicht, wie sie dort hineingekommen sind, sie wissen nicht, ob sie jemals wieder herauskommen, und sie haben keine Ahnung, was sie überhaupt in diesem Gefängnis sollen. Sie wissen nur, dass sie vermutlich bald verhungern und verdursten werden, wenn sie sich vorher nicht gegenseitig umbringen: Die Hölle, das ist, mit anderen allein zu sein.

In „Cube“, dem ersten Film des kanadischen Regisseurs Vincenzo Natali, ist die Hölle ein futuristisches, karg eingerichtetes Gefängnis. Es besteht aus sechsundzwanzig mal sechsundzwanzig würfelförmigen Räumen, die in unterschiedlichen Farben beleuchtet sind und deren Wände aus zersprungenem, undurchsichtigem Glas zu bestehen scheinen. Die Anordnung dieser Zellen zueinander ist veränderbar – das Gefängnis ist eine Art überdimensionierter Zauberwürfel. Ein recht grausamer allerdings, denn in einigen der Räume warten bösartige Fallen auf die Gefangenen: Stahlspitzen, die beim leisesten Geräusch aus den Wänden schnellen, Säureattacken, die durch einen Bewegungsmelder ausgelöst werden. Gleich zu Beginn saust ein Stahlgitter durch die Luft und zerlegt einen der Menschen mit mathematischer Präzision in würfelförmige Einzelteile.

„Cube“ ist ein Horrorfilm, so postmodern, wie man ihn sich nur vorstellen kann: Die Schockeffekte des Genres reduzieren sich auf ein paar unappetitliche, aber sicherlich nicht sonderlich originelle Bilder, und wenn die Gefangenen über die Ursachen des Grauens nachdenken, zitieren sie allein die Dialoge mittelmäßiger Mysterie-Fernsehserien: „Nur die Regierung kann sich so etwas ausgedacht haben“, findet Doktor Holloway, die eigentlich Ärztin ist, während Quentin, ein Polizist, an Aliens denkt. Sie haben beide Unrecht: „Es gibt keine Verschwörung, es gibt niemanden, der das hier zu verantworten hat“, sagt Worth, der schließlich zugibt, als kleiner Angestellter an einem kleinen Teilbereich des Würfels mitgearbeitet zu haben: „Big brother is not watching you.“

Es ist also einfach niemand da draußen. Neuere Science-Fiction-Filme wie „Dark City“ oder „Matrix“ hatten mit der Illusion einer Außenwelt gespielt, „Cube“ dagegen, und das ist so klaustrophobisch wie spannend, beschränkt sich radikal auf die Innensicht: Wenn selbst die Verschwörungstheorie zum Gemeinplatz geworden ist, gibt es keine Außenperspektive mehr – und auch keine bösen Computer, die sich vom metaphysischen Potenzial der Menschen ernähren.

Die einzige Metapher, die Vincenzo Natali den Gefangenen lässt, ist die des Algorithmus: An Hand der Nummern, die zu den einzelnen Räumen gehören, gelingt es der mathematisch begabten Studentin Leaven, die Verschiebungen in der Architektur des Zauberwürfels vorauszusagen und möglicherweise sogar den Weg nach draußen zu berechnen. Für einen Moment verdichten sich die zersprungen Glasscheiben an den Wänden zu Leiterbahnen und Microchips: Es rechnet.

Noch einmal brechen Konflikte in der Gruppe aus, die einem seltsam archaisch vorkommen, genau wie die Hoffnung auf Freiheit, an die sich alle bis auf den von allem Sinn gelangweilten Angestellten Worth klammern. Vielleicht gibt es den Ausgang aus dem dynamischen Labyrinth ja sogar, aber was sollte er nützen? Quentin, Leaven und die anderen sind selbst zur Software geworden, zu endlosen Zahlenreihen und Nummerkombinationen, die in der Maschine, die sie umgibt, aufgehen. Und was bleibt von einem Code, der sich selbst entschlüsselt?

KOLJA MENSING

„Cube“. Regie: Vincenzo Natali. Mit Nicole de Boer, Nicky Guadagni, David Hewlett u. a. Kanada, 1997. 90 Min.