Integration per Tandem

Alice Imdahl und Achim Pogoda absolvieren ein „Bürgerjahr“ in Essen. Die Initiative gilt als Modellprojekt für Sozialarbeit

aus Essen ANNETTE KANIS

Kennenlernspiel. Sechzig Kinder und Teamer wuseln durcheinander. Mit Krücken, Rollstuhl oder ohne. Mittendrin Alice Imdahl mit den Herzen. Ein großes rotes aus Pappe als Namensschild steckt an ihrem olivfarbenen Parka, ein zartes blaues als Spange hält die glatten Haare aus dem Gesicht. Alice schiebt David* durch das Gewühl. Sein Oberkörper zuckt im Takt der lauten Musik.

Alice beugt sich zu ihm, erklärt ihm alles. Mit ruhigen Worten, unbeeindruckt vom Lärm. Dass eine Stadtralley ansteht, viele Kinder aus der evangelischen Gemeinde mitmachen, dass jeder sich ein Lieblingsessen ausdenken soll. Immer neben den beiden: Lara. Sie sucht Alices Hand. Lara sieht aus wie sechs, ist neugierig und schüchtern, eigensinnig und liebevoll. Lara ist neun und hat das Down-Syndrom. Die drei lernt man zusammen kennen.

„Früher habe ich weggeschaut, wenn ein Behinderter in meine Nähe kam.“ Alice sagt das wie eine Entschuldigung. Sie erinnert sich noch gut an ihre Unsicherheit, die Voreingenommenheit. Die wollte Alice ablegen. Direkt nach der Mittleren Reife begann sie ein Ganzjahrespraktikum im Regenbogenhaus, einer integrativen Freizeitstätte in Essen. Ihre Ängste verschwanden schnell. Ihr Berufsziel ist noch unklar. Wirklich Heilerziehungspflegerin lernen und ein Leben lang mit Behinderten arbeiten? Oder doch Maskenbildnerin werden? Die 19-jährige Alice ist auf der Suche. Ihr Weg ist zur Zeit das Bürgerjahr.

Modell gegen Arbeitslosigkeit

Das Bürgerjahr ist ein Modellprojekt in Essen. Die TeilnehmerInnen absolvieren ein soziales Praxisjahr, das auf Zivildienst, Freiwilligem Sozialen Jahr oder auf vergleichbaren Vorerfahrungen aufbaut und weiterführende Möglichkeiten für aktives Engagement in sozialen, kulturellen und ökologischen Praxisfeldern vermittelt. 1.800 Mark brutto verdienen die Essener Engagierten. Bürgerarbeit gilt als Zukunftsmodell gegen Massenarbeitslosigkeit.

Heute Nachmittag schiebt Alice Davids Rollstuhl durch die Fußgängerzone von Essen-Steele. Am linken Griff hält sich Lara fest. Die Aufgaben der Stadtralley wollen gelöst werden. Die kleine Gruppe zieht Blicke auf sich. Jetzt können die anderen gucken, wie sie auf Behinderte reagieren. Das ist nicht mehr Alices Problem.

„Die demokratische Gesellschaft braucht mehr Lernorte für Mitverantwortung“, hat Exbundespräsident Roman Herzog kurz vor dem Ende seiner Amtszeit gesagt. Das Bürgerjahr in Essen ist ein Beispiel dafür, dass Schlagworte wie Lebenserfahrung, Integration und Gemeinwohlförderung sich konkretisieren können. Und dass neue Arbeitsplätze geschaffen werden.

Früher war Achim Pogoda arbeitslos. Noch früher hat er die Elektronik im ICE zusammengebaut. Heute hilft er Martina Krey beim Kuchen backen. Zutaten abwiegen, die Rezeptreihenfolge einhalten. Ein wenig über die Schulter schauen, ob alles klappt. Martina Krey, 37, hat das Down-Syndrom. Die beiden sind ein Tandem. „Es kommt nicht darauf an, dass zwei Menschen 200 Prozent leisten, sondern 100 Prozent plus x“, beschreibt Klaus von Lüpke die Tandemidee. Er leitet das Behindertenreferat und hat das Essener Bürgerjahr initiiert.

Eines der Projekte ist das Café „Treff“, wo Achim und Martina gemeinsam in einem achtköpfigen Team arbeiten. Durch die verglaste Front fällt trotz des trüben Wetters viel Licht, an den Wänden hängen Kinderzeichnungen. An den Kieferntischen mit den strohüberzogenen Stühlen sitzt meist Stammpublikum. Hier draußen im Essener Vorort gibt es wenig Laufkundschaft. Dafür kommen die Lehrer aus der benachbarten Schule zum Mittagessen, die Gemeindemitarbeiter machen hier Dienstbesprechung, einmal die Woche treffen sich die Telekom-Rentner, und die Müttergruppe plant neue Projekte.

Die Mütter waren früher für das Café verantwortlich und haben sich etwas schwer getan mit Achims Einstieg in die soziale Arbeit. Nach drei Jahren Arbeitslosigkeit – das Siemenswerk hatte dicht gemacht – wollte er unbedingt „etwas mit Menschen machen“. Seine bunten Dreadlocks, die unzähligen Ringe im Ohr, das Nasen- und Augenbrauenpiercing, die tätowierten Unterarme und Springerstiefel stellten die Müttergruppe vor große Herausforderungen. Man einigte sich zunächst auf eine unverbindliche Probezeit. Und Achim Pogoda, Punk seit dem fünfzehnten Lebensjahr, überzeugte die skeptischen Mütter mit seiner gewissenhaften Arbeit und seiner besonnenen Art.

Punker Achim und Pfarrer Achim

Noch immer nennen ihn alle hier Punker Achim. Aus praktischen Gründen, denn der andere Achim ist Pfarrer gleich nebenan in der Kirchengemeinde. Die bunten Dreadlocks sind zwar vor kurzem gewichen – der Wohnungssuche, der neuen Freundin und der Überzeugung, „dass man mit dreißig Jahren nicht mehr mit dem Äußeren zu schockieren braucht, sondern mit Argumenten überzeugen sollte.“

Das hat Achim Pogoda auch als PDS-Kandidat für die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen versucht. Wegen seines Einsatzes in Politik und Gewerkschaft hat Achim sein zweites Bürgerjahr auf ein halbes gekürzt. 19,5 Stunden pro Woche also Rezepte ausprobieren, zuhören, wenn Martina von Familienproblemen erzählt, Reservierungen koordinieren, Martina bei der Wohnungssuche helfen, Buchhaltung. Oder einkaufen bei Metro, wie heute Morgen. Währenddessen sortieren Martina, Thomas und Mario in der Küche die Vorräte. Früher haben die drei in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet. Plastikbehälter eingepackt, an der Drehbank gestanden, das Treppenhaus geputzt. „Im Café ist die Arbeit viel abwechslungsreicher und der Kontakt mit den Menschen macht Spaß“, sagt Mario Ciarrettino, der seit fast zwei Jahren kocht, bedient und kassiert. Andrea gibt Tipps, wo sich der Teevorrat am Besten macht. Man duzt sich hier. Und hat eine Umarmung für Achim, der gestresst vom Metroeinkauf wiederkommt. Das Batik-Seidenhalstuch von Andrea will nicht so recht passen zu Achims Tätowierungen und dem schwarzen Kapuzenshirt. Die Umarmung schon. Mit den Einkünften von knapp 900 Mark pro Monat kommt Achim ganz gut klar. Denn er bezieht Berufsunfähigkeitsrente. Bei einem Motorradunfall auf dem Weg zur Arbeit hatte er seinen rechten Unterschenkel verloren. Mit der BU-Rente im Rücken entspricht er nicht ganz dem klassischen Bild des Arbeitslosen, der im dritten Sektor eine neue Aufgabe findet. Aber gerade von festgefügten Bildern wird man sich lösen müssen, wenn es um den Arbeitsmarkt der Zukunft geht.

*Namen der Kinder geändert