Dichter auf Reisen

105 Autoren kommen heute Abend im „Literaturexpress Europa 2000“ auf dem Bahnhof Friedrichstraße an

Der belgische Bankier Georges Nagelmackers hatte Ende des 19. Jahrhunderts einen Traum: Ein Zug durchquert in nur 90 Stunden den europäischen Kontinent ohne Halt an den Grenzen und ohne Auswechseln der Wagen – von Lissabon über Paris und Berlin nach St. Petersburg. 1896 wurde die Strecke mit dem legendären Nord-Süd-Express in Betrieb genommen. Ein Jahrhundert später haben sich über 100 Schriftsteller aus 43 Ländern noch einmal auf diesen Weg gemacht, allerdings sechs Wochen lang mit zahlreichen Zwischenstopps.

Sie nutzten den Sonderzug als „rollende Dichterwerkstatt“, verfassten Gedichte, Essays – und Kochbücher mit den Lieblingsrezepten aus den jeweiligen Ländern. Am 4. Juni war der wohl ungewöhnlichste Zug dieser Tage in Lissabon gestartet, an diesem Freitag ist er am Ziel und trifft um 18.39 Uhr auf dem Berliner Bahnhof Friedrichstraße ein.

Wer denkt, dass sich die Autoren nur eine Art gesellige, aber immerhin 15 Millionen Mark teure Klassenfahrt gegönnt haben, der wird vom Spiritus Rector des Unternehmens, Thomas Wohlfahrt von der Literaturwerkstatt Berlin, schnell belehrt: Während sie durch Europa rasten, bildeten die Autoren Arbeitsgruppen zu Themen wie neue Medien oder Exil und tauschten die unterwegs verfassten und gegenseitig übersetzten Texte aus. Eine Gruppe erarbeitete eine Balkan-Anthologie. „Die Sprachbarrieren waren nicht gravierend“, berichtet der mitreisende Wohlfahrt, der auch mal schnell nach Berlin zu einer Pressekonferenz fuhr, um Zwischenbericht zu erstatten. Die Hauptsprachen waren übrigens Englisch und Russisch. Das Echo und Interesse in allen europäischen Stationen sei überwältigend gewesen. Der Zug fuhr über Madrid, Paris, Brüssel, Dortmund, Hannover, Königsberg, Riga, St. Petersburg, Moskau, Minsk, Brest und Warschau und wieder zurück bis Berlin. Unterwegs gab es unter anderem ein „Poetisches Turnier“ im Königsberger Dom, ein „Straßenfest der Literatur“ in Vilnius oder Begegnungen in Moskauer Literaturclubs.

„Gute Gesundheit, Durchhaltevermögen und Spaß am Neuen“ waren nach Wohlfahrts Angaben die Voraussetzungen, die alle Autoren mitbringen mussten. Eine andere handfeste Voraussetzung war die Unterstützung zahlreicher Sponsoren, darunter die Bahngesellschaften der jeweiligen Länder, die Unesco und der Europarat. Die gesammelten Erfahrungsberichte der abenteuerlichen literarischen Europareise sollen nächstes Jahr in einem gemeinsamen Buch veröffentlicht werden – dann sind die Schriftsteller wieder da, wo sie ja eigentlich hingehören. WILFRIED MOMMERT, DPA

Berliner Bücherfest auf dem Bebelplatz, Samstag und Sonntag 11 bis 22 Uhr