Beatclub und Moral

Zeitgeschichte im Fernsehsessel (Pt. 2): In den 60ern wurde das spießige Pantoffelkino von der Parole „Trau keinem über 30“ abgelöst

von KARL WACHTEL

Wir trauten unseren jugendlichen Augen nicht – der Hauch einer Brustwarze – unter dem Negligee hervorgerutscht. Nein, nicht irgendeine! Sie gehörte Romy Schneider in der Inszenierung des Aristhophanes-Stückes „Lysistrata“ von Fritz Kortner. Das deutsche Fernsehen hatte am 17. Januar 1961 seinen ersten Skandal und der Bayrische Rundfunk die fadenscheinig-moralische Chance, sich dem Programm zu verweigern. Moralisch eingemauert gab man sich in diesen Tagen allenthalben.

Kein Wunder: Die Konfliktlage der Großmächte, die Kubakrise und vor allem der Mauerbau hatten innenpolitisch zu einem abstrusen Bunkerdenken geführt. Dazu passte die Liebe zum damaligen Pantoffelkino vortrefflich. Sauber sollte es sein, sorglos-unterhaltend und vor allem staatstragend. Das sah Bundeskanzler Adenauer wohl auch so. Und weil Moral und Bigotterie oft eng beieinander liegen, zog die rheinische Frohnatur – unterstützt von Industrie und Banken – ein höchst unmoralisches Angebot aus dem Ärmel. Einen privaten Zweiten Deutschen Fernsehkanal wollte er sich einrichten (1960) – doch da hatte er die Rechnung ohne die junge Demokratie gemacht, als das Bundesverfassungsgericht dieses Angebot ablehnte (1961).

Aufmüpfig und politisch

Gleichzeitig kam das Fernsehen selbst in die Pubertät und – wurde aufmüpfig. „Heute Abend wollen wir uns mal wieder mit der Bundesregierung anlegen“ – die Fernsehzuschauer waren entsetzt über das politische Magazin „Panorama“, dessen Macher sich 1961 diesen Satz in ihr Stammbuch geschrieben hatten. Vorbei war es mit der heilen Fernsehwelt. Die Wirklichkeit hatte den Zuschauer eingeholt. Soziales Elend, politisches Schmierentheater, beklagenswerte Ungerechtigkeiten – man fror in den Pantoffeln.

Aber es sollte noch schlimmer kommen, und zwar nicht weil es ein paar Jahre später ein ähnlich eckiges und aneckendes Magazin mit Namen „Monitor“ geben sollte (1965). Das Problem waren wir, die Fernsehkinder der ersten Stunde. Wir scherten aus und verweigerten den Gehorsam mit Frankenfeld („Toi, Toi, Toi“, 1961), Kuhlenkampff („Einer wird gewinnen“, 1964) oder Lou van Burg („Der goldene Schuß“, 1964).

Natürlich freuten wir uns über „Musik aus Studio B“ mit Chris Howland (1961), und natürlich gehörten wir zu den 90 Prozent, die dem Durbridge-Mehrteiler „Das Halstuch“ folgten, (aber auch zu den 2 Prozent, die sich diebisch freuten, als Wolfgang Neuss per Zeitungsannonce zu früh den Mörder „überführte“).

Auf das ZDF (Sendestart: 1963) setzten wir nicht gerade unsere Hoffnungen. Wir wollten etwas Eigenes – und wir bekamen es. Das Fernsehereignis des Jahres 1965: „Der Beatclub“. Rockmusik dröhnte in die gute Stube – laut, live, unanständig und zu geheiligter Zeit. Der Samstagnachmittag war dahin – so oder so.

Vater oder Sohn. Fußball oder Rock ’n’ Roll. Die Familientherapeuten rieben sich die Hände.

Die Jugend hatte die Mattscheibe „erobert“ – und wollte auch auf der gesellschaftlichen Bühne mitmischen. Das hatte Folgen für unser Verhältnis zum Fernsehen. Es war wichtig, wenn es uns aus den eigenen festgefahrenen Diskussionen über Zustand und Veränderung von Gesellschaft analytische, emotionale, entlarvende Lösungen präsentierte: Roman Brodmanns Film „Der Polizeistaatsbesuch“ (1967), Fernsehspiele von Wolfgang Menge – wie „Das Millionenspiel“ (1970) – oder Dokumentationen von Klaus Wildenhahn.

Beatclub statt Hitparade

Wir freuten uns über Kreuzfeuer mit Castroff und Rohlinger, wollten Rudi Dutschke sehen, eingehakt bei Freunden oder unseren neuen Hoffnungsträger Willy Brandt. Der Weichspüler „ZDF-Hitparade“ hatte dem „Beatclub“ den Rang abgelaufen, das „ZDF-Magazin“ durfte gesendet werden, und wir trauten keinem über 30.

Schon gar nicht dem inzwischen farbigen Fernsehflegel. Wir setzten auf allumfassende Bildung. Gesellschaft und Fernsehen erfuhren eine vorher nicht gekannte Pädagogik-Infusion. Aufgebrachte Eltern liefen, angestiftet von Soziologen, Pädagogen und Psychologen, Sturm gegen die „Gewaltverherrlichung“ in der „Sesamstraße“, „Tom und Jerry“ ereilte gar ein Berufsverbot. Es gab zu wenig Holzspielzeug im Programm.

Das sollte sich ändern. In „Betrifft Fernsehen“ musste das Fernsehen die Hosen fallen lassen, Jugendliche bestimmten im Magazin „Direkt“ die Programminhalte selbst. Dietmar Schönherr und Vivi Bach predigten in „Wünsch Dir was“ den Teamgeist. Dem großen Schein folgte die Offenlegung der Scheinwelt. Das traf die Fernsehstudios wie die Bildungsarchitektur. Und alles wirkte wie nicht zu Ende gedacht.