Angela Merkel und der Planet K.

Ihre Partei verdankt das meiste Helmut Kohl. Sie verdankt das meiste Helmut Kohl. Der Patriarch wurde zum Paten. Wie kommt man von ihm los?

von JENS KÖNIG

Plötzlich wird es dunkel. Am Himmel zucken ein paar Blitze. Jemand zählt laut den Countdown: ... three, two, one, zero! Dann setzt ein ohrenbetäubender Lärm ein, und die Rakete hebt vom Boden ab. Ganz hinten in dem Raumschiff sitzt etwas aufgeregt das CDU-Präsidium.

Im Bertelsmann-Pavillon auf der Expo beginnt der Flug zum „Planet M“, eine Reise durch ein paar tausend Jahre Mediengeschichte. „Stellen Sie sich eine Welt ohne Medien vor“, sagt die Stimme des Erzählers. „Das wäre super“, tönt es von hinten, dort, wo die CDU-Führung sitzt. Alle in dem Raumschiff lachen. Die Anspannung löst sich. „Noch besser wäre eine Welt ohne Kohl“, ruft ungefragt einer dazwischen. Von den Damen und Herren Christdemokraten lacht jetzt keiner mehr.

Kohl lässt die Partei nicht los

Das geht jetzt schon seit Wochen so. Wann immer die CDU startet, um in die Zukunft aufzubrechen, hält sie die Vergangenheit in Gestalt eines gewissen Helmut Kohl auf. Dieser Kohl stellt sich der Partei einfach in den Weg, er klammert sich verzweifelt an ihr fest, er zwingt sie, ihm zu folgen.

Wie hier am Montag in Hannover. Die CDU-Führung war demonstrativ auf die Weltausstellung gefahren, um mit einem Physiker, einem Philosophen und einem Umweltexperten über gesellschaftliche Zukunftsfragen zu diskutieren, über Gentechnik und deren ethische Herausforderungen beispielsweise. Und die Parteichefin Angela Merkel hatte sich ganz bewusst diesen Expo-Besuch als Start für ihre „Sommertour 2000“ ausgesucht. Denn Merkel will auf ihrer zehntägigen Busfahrt durchs Land vor allem eines zeigen: dass sie und ihre Partei fit sind für die Zukunft, fitter als Schröder und seine SPD. Zu diesem Zweck besucht sie vor allem Unternehmen der New Economy: Internetfirmen, Softwarezentren, Informationstechnologie-Gesellschaften. Aber ausgerechnet hier auf der Expo muss sich das CDU-Präsidium entgegen seiner ursprünglichen Planung mit Helmut Kohl beschäftigen, und das liegt nicht etwa an dem vorlauten Zwischenrufer auf der Reise zum „Planet M“.

Schuld an ihrem Dilemma ist die Partei ganz allein. Sie ist sich nicht einig darüber, wie sie mit ihrem früheren Kanzler und Parteichef weiter umgehen soll. Die einen wollen den Konflikt mit Kohl beenden und endlich Frieden mit ihm schließen. Die anderen glauben, dass genau das nicht geht, solange Kohl die Namen der anonymen Spender nicht nennt und damit sein Ehrenwort über das Gesetz stellt. Kohl selbst will mit seiner Strategie, sich in der Spendenaffäre als Opfer zu stilisieren, die CDU zur Solidarität zwingen. Insbesondere in der Bundestagsfraktion wächst die Zahl seiner Anhänger. Nach internen Schätzungen der Fraktion unterstützen drei Viertel der Abgeordneten den Annäherungskurs gegenüber Kohl. Da funktionieren die alten Reflexe wieder: Die Partei ist eine Familie, und die rückt zusammen, wenn der Feind zum Vernichtungsfeldzug bläst.

Und Angela Merkel? Sie steht im Presseclub der Expo und erklärt den Journalisten, dass das CDU-Präsidium gerade ihren Kurs gegenüber dem früheren Bundeskanzler verteidigt hat. Das ist nicht ganz unwichtig, war doch die Parteichefin noch wenige Tage zuvor von mehreren Abgeordneten aufgefordert worden, ihre Angriffe auf Kohl endlich einzustellen. Trotzdem würde Merkel jetzt lieber über Schröders Steuerreform herziehen, anstatt vom Machtkampf in der CDU zu berichten. Es sieht so aus, als könnte sich die unerschrockene Frau, die ihren Aufstieg zur Parteivorsitzenden dem radikalen Bruch mit Helmut Kohl verdankt, jeden Moment wieder in das „Mädchen“ verwandeln, das ihr Ziehvater Kohl früher in ihr sah.

Die „offene Flanke“ der CDU

Als Merkel aufgefordert wird, ihre Haltung zum früheren CDU-Chef noch einmal zu beschreiben, spricht sie von einer „offenen Flanke“, die der CDU bleibe, solange Kohl nicht rede, und davon, dass es ohne Vergangenheit keine Zukunft gebe. Das sind keine Sätze, mit denen sich eine Vorsitzende in ihrer Partei Respekt verschafft. Die CDU-Chefin wird sie in den nächsten Tagen mehrfach wiederholen.

Hat Heiner Geißler mit seiner Befürchtung Recht, dass Angela Merkel inzwischen das Fürchten gelernt hat? Ist die unscheinbare Frau dem brutalen Machtmenschen Helmut Kohl, der noch heute CDU-Mitglieder des Untersuchungsausschusses nach Belieben antanzen lässt, vielleicht doch nicht gewachsen? Hat die neue Parteivorsitzende sich mit der Aufgabe, die CDU von ihrem Übervater Helmut Kohl zu befreien, am Ende gar übernommen?

Angela Merkel ist gerade in der Zukunft angekommen. Sie sitzt im Saal London des IBM Forum Stuttgart. Die Personalchefin des Informationstechnologie-Unternehmens erklärt – in einem deutsch-englischen Kauderwelsch, wie es sich für Mitarbeiter in global operierenden Firmen gehört – der Parteivorsitzenden die Bedeutung der IT im Zeitalter von Pervasive Computing und E-Business, berichtet von mobiler Telearbeit und flexiblen Arbeitszeiten und erzählt von der kontinuierlichen Skill-Entwicklung der Mitarbeiter.

Angela Merkel lässt sich von solchen Vorträgen nicht schrecken. Natürlich kommt ihr als studierte Physikerin zugute, dass sie schon mal darüber fachsimpeln kann, wie welchem Betriebssystem der Zentralrechner des Unternehmens arbeitet. Aber auch sonst ist Merkel neugierig, aufmerksam und ohne Scheu. Sie fragt, wenn sie etwas wissen will, und sagt offen, wenn sie etwas nicht versteht. Die Global Player von IBM in Stuttgart bringt sie zum Lachen, als sie erzählt, dass sie an der Akademie der Wissenschaften in der DDR nur mit einem 370er Rechner von Robotron gearbeitet hat, dessen Hard- und Software aber mit vielen Tricks von IBM gestohlen worden war.

Nach der Angst das Mitleid

Merkel versteht es, ihre Gesprächspartner aufzuschließen – egal, ob bei einer Weltfirma wie IBM, einer kleinen Datenverarbeitungsgesellschaft in Hannover oder einem mittelständischen Unternehmen für Gartenbaugeräte in Ulm. Sie drängt sie freundlich, ihr als Politikerin Fragen zu stellen oder Probleme zu schildern. Und alle gehen darauf ein, die Lehrlinge genauso wie der Betriebsrat oder der Aufsichtsratsvorsitzende. Merkels Fragen sind alles andere als originell („Was verdient man denn so als Azubi?“), aber sie sind ehrlich gemeint: Merkel will wirklich etwas wissen.

Je länger man mit der CDU-Vorsitzenden durchs Land fährt, je öfter man sie im Gespräch sieht, desto mehr versteht man, warum Angela Merkel auf dem Höhepunkt der Spendenaffäre als neuer Politikertyp gefeiert wurde. Das liegt an ihrer unkomplizierten, offenen Art, an der Unauffälligkeit, mit der sie Macht ausübt. Man wird das Gefühl nicht los, dass Merkel genau darauf auch beim Umgang mit Helmut Kohl setzt.

Wenn Kameras und Mikros ausgeschaltet sind, kann Merkel sehr genau und ohne Illusionen über die Schwierigkeiten der Partei mit Kohl sprechen, über die Nostalgie der Mitglieder, ihr falsches Harmoniegefühl, ihre Sehnsucht nach autoritärer Führung. In solchen Momenten wirken Merkels blutarme Sätze auf Pressekonferenzen nicht wie eine Kapitulation vor dem Machtmenschen Kohl, sie zeigen nur ihre Angst, mit falschen Worten die Auseinandersetzungen weiter anzuheizen.

Vor Kohl fürchtet sich die neue CDU-Vorsitzende nicht. Nicht mehr. Sie hat eher Mitleid mit ihm. In seiner Art, Leute zu sich zu zitieren und auf sie einzureden, sieht sie nicht den Versuch, die Macht in der Partei zurückzuerobern. Angela Merkel hält Helmut Kohl inzwischen für einen einsamen, alten Mann, der die Welt um ihn herum nicht mehr versteht. Christian Wulff, stellvertretender CDU-Vorsitzender und einer von Merkels Vertrauten, sagt das deutlicher, als sie es sich öffentlich traut: „Kohls Tragik liegt darin, dass er jenseits der Politik nichts hat, worauf er sich zurückziehen kann.“

Trotzdem bleibt die Frage, ob Merkels Plan aufgeht, Kohl in zwei Hälften zu trennen, den guten Kohl am 3. Oktober zum zehnten Jahrestag als großen Staatsmann zu ehren und den bösen Kohl für seine Fehler zur Rechenschaft zu ziehen. Mit warmen Worten für seine historischen Verdienste wollte sie bislang Helmut Kohl einen Rückzug ohne großen Gesichtsverlust ermöglichen und sich selbst den Freiraum für einen Neubeginn erkämpfen. Der tief verletzte Kohl hat dieses Angebot abgelehnt. Er kämpft gegen Merkel. Er will, dass die neue CDU-Vorsitzende auf den alten Parteichef weiter angewiesen ist.

Angela Merkel wird nicht länger auf eine Versöhnung mit Kohl setzen können. Sie weiß das. Aber traut sie sich das zu? „Ich bin mir da ganz sicher“, sagt sie. Und sie ist überzeugt davon, dass ihre Partei ihr dabei folgt.

Auf dem CDU-Sommerfest in Hannover springt nach Merkels Rede der ehemalige niedersächsische Parteichef Wilfried Hasselmann auf die Bühne und ruft: „Wir sollten Helmut Kohl nicht alleine lassen, sondern ihn in unsere Mitte nehmen.“ Die CDU-Anhänger jubeln. Angela Merkel steht neben Hasselmann auf der Bühne, lächelt – und schweigt.