Der Tod im Elendsviertel

In Bombay leben zwei Drittel aller Einwohner im Slum. Die Kunst des Überlebens findet jedes Jahr ein Ende, wenn der Monsun alles überschwemmt

aus Delhi BERNARD IMHASLY

In Bombay sind die schlimmsten Slums gar keine Slums. Man sieht sie nur in der Nacht, wenn die Gehsteige plötzlich nicht mehr vom raschen Hin und Her der Passanten belebt sind, sondern bevölkert sind von schlafenden Gestalten, eingehüllt wie Leichen mit dem dünnen Tuch, das sich über Körper und Gesicht strafft. 75 Prozent der Strassen in der Achtzehn-Millionen-Stadt werden laut Statistik in der Nacht zum Schlafsaal für jene, die nicht einmal eine Plastikplane über dem Kopf ihr eigen nennen können.

Die meisten von ihnen sind Migranten, die erst vor kurzem in die Stadt gekommen sind. 400 Familien sind es täglich in Bombay, und die Gehsteige sind ihre ersten Adressen. Von dort driften sie im Lauf der Monate zuerst in die grossen Abwasserrohre auf Baustellen, unter die Brücken, oder sie zwängen sich in die Nischen und Eingänge von Häusern. Und wenn einmal der soziale Kontakt zu spielen beginnt – ein Nachbar aus dem Dorf, ein Tagelöhner auf der gleichen Baustelle, ein Bettlerkollege an der gleichen Straßenkreuzung – gelingt es vielleicht, in einem Slum unterzukommen.

Dächer aus Plastikflaschen

Auch bei den Slums gibt es eine Hierarchie, vom „Jhuggi Jhopri“, wo die Bastwände und schwarzen Planen wie eine Christo-Kreation mit Stricken verschnürt sind, bis zum „Basti“, wo es schon Mauerwerk gibt, und in den engen Gassen Zapfstellen mit Wasser. Doch auch im Basti wird auf den gleichen acht Quadratmetern erdigen Fussbodens gekocht, geschlafen und geliebt, aber über dem Wirrwarr von Plastikflaschen, kaputten Regenschirmen und Tuchfetzen namens Dach schwankt oft auch schon eine Fernsehantenne. Vollends „edel“ wird es dann in Slums wie Dharavi, mit 500.000 Menschen Asiens größter Slum.

Hier sind die Einzimmerhütten sauber gebaut, die engen Gassen gepflastert, es wohnen hier die untersten Staatsdiener, Taxi-Chauffeure, Kleinstunternehmer, und vielleicht sogar eine Air India-Hostess. Doch die Bevölkerungsdichte spricht für sich: 120.000 Menschen pro Quadratkilometer. In Berlin sind es dagegen nicht einmal 4.000.

Die Kunst des Überlebens in Bombay findet aber dann ein Ende, wenn in den zwei Monsunmonaten alles überschwemmt wird. Dann flüchten die Menschen aus den Straßen in die etablierten Slums, die sich überall dort ausgebreitet haben, wo es keine Landnutzung gibt: unter Ufermauern, am Rand von Schulplätzen, entlang der Kanäle und Eisenbahnlinien, oder an steilen Hügelzügen, die im Norden Bombays in die Stadt hineinlaufen. Die Belastung des Erdreichs durch die Regengüsse wird dort durch die zusätzlichen Bewohner, die sich in den Gassen einrichten, noch vergrößert – bis zu dem Punkt, an dem die Erdkruste nachgibt und mit ihrer menschlichen Fracht, Hütten und Geschirr zu Tal schlittert. So ist es nun in dem nordöstlichen Elendsviertel Ghatkopar passiert.

Mehr als die Hälfte aller Bewohner von indischen Großstädten leben in Slums – die „Eiterbeulen“ städtischer Gemeinschaften. Während mehrerer Jahrzehnte bildete diese Metapher den Kern der offiziellen Politik: Slums mussten ausgerottet, ausgetilgt, herausgeschnitten werden aus dem schönen Körper eines elitären Städtebilds. „Slum Clearing“ wurde zu einer eigenen Behördenstelle mit Planern, Bulldozern und Polizeikommandos. Doch in Ermangelung von Alternativen wurden aus deren Operationen bestenfalls Kosmetik. Denn kaum hatte man die Bewohner mit Gewalt aus dem einen Slum vertrieben, begann der Prozess der „upward mobility“ erneut – von der Straßenschlafstelle zum Basti.

Erst seit den letzten Jahren gibt es Ansätze, die Menschen im Slum tatsächlich als Bürger anzuerkennen, da auch sie ihren Beitrag zum Leben der Stadt leisteten – als Hausangestellte, Lumpensammler, Lastenträger, Bauarbeiter oder Verkäufer von Kämmen. „Wenn Städte Slums haben“, sagt der Urbanist Himangshu Parikh, „ist dies nicht ein Problem der Slums, sondern der Städte.“ Bombay hat das größte Problem: Hier leben zwei Drittel aller Einwohner im Provisorium. In einigen Städten wurden Slums daher „regularisiert“, das heißt, die Bewohner erhielten Grundstückpapiere, sie organisierten sich, um Wasser- und Stromleitungen zu legen und Toiletten in ihren winzigen Räumen einzurichten. Es zeigte sich, dass sie bereit waren, für die Dienstleistungen zu bezahlen, sobald sie sicher waren, dass sie nicht eines Morgens über dem Lärm eines Bulldozers erwachen und auf Lastwagen geladen würden.

Wohnung gegen Wahlstimme

Das größte Hindernis für eine allmähliche Integration der Slums in den städtischen Organismus sind nicht die Wellen neuer Migranten, die täglich zu Fuß, in Bussen oder Zügen in die Städte strömen. Es sind die Politiker, die ein Interesse an der Weiterexistenz der Slums als Stimmenreservoire zu halten. Denn solange ein Slum als illegal eingestuft ist, droht seinen Bewohnern die plötzliche Vertreibung. Gegen das Versprechen von Wahlstimmen sind die Politiker bereit, ihre schützende Hand über dem Slum zu halten.

Slumlords sorgen für die Stimmen – und oft auch für die Bezahlung des Wahlkampfs, denn auch das schäbigste Slumloch kostet Miete. Doch damit dieses System funktioniert, muss der Slum illegal bleiben, und dies heißt: Die Gemeinde leistet nicht das Geringste für die Infrastruktur. Erst wenn dieser Nexus zwischen Politikern, Slum-Mafias und korrupten Behörden gebrochen wird, meint Parikh, werden Slums eine Chance haben, organisch zu wachsen, statt sich einfach auszubreiten, „wie ein Geschwür“.