Gebrochene Genossen

In der Berliner SPD geht es zu wie in einem Stadtviertel, in dem das soziale Gleichgewicht umgekippt ist: Es regiert Zerstörungswut, die Demontage des Führungspersonals wird zum Selbstzweck

von RALPH BOLLMANN

Wenn sich die Berliner Sozialdemokraten heute im Internationalen Congress Centrum zum Parteitag treffen, wird ein Hauch von Mannheim durch den Saal wehen. Der Vorsitzende der Antragskommission tritt gegen den amtierenden Parteichef an – so war es auch, als sich Oskar Lafontaine 1995 an die Spitze der Bundespartei putschte und damit die Weichen stellte für den Wahlsieg drei Jahre später.

Eine solche Aufbruchstimmung aber ist bei den Berliner Genossen weit und breit nicht in Sicht – und der biedere Hermann Borghorst, der die Berliner Antragskommission leitet, ist kein zweiter Lafontaine. Das lässt sich auch von Stefan Grönebaum beim besten Willen nicht sagen, dem eigentlichen Herausforderer des amtierenden Landesvorsitzenden Peter Strieder.

Für eine Hauptstadtpartei ist der sprunghafte Luftikus Strieder kein glänzender Parteichef. Er verkörpert alles, was die Berliner SPD so wenig anziehend macht. Das sehen auch viele der führenden Genossen in der Landes- und Bundespartei so. Trotzdem unterstützen sie den angeschlagenen Parteifreund. Würde Strieder heute abgewählt, verlöre die Partei – nach Walter Momper, Ditmar Staffelt und Detlef Dzembritzki – ihren vierten Vorsitzenden in weniger als einem Jahrzehnt.

Grönebaum und Borghorst wollen die Delegierten Glauben machen, sie könnten die Partei aus dem Jammertal führen. Doch die beiden Kandidaturen sind keine Lösung der Krise, sondern vielmehr deren Symptom.

Die Partei, die seit 1981 – mit einer Ausnahme – nur noch Wahlen verloren hat, hat sich selbst längst aufgegeben. Die Theorie von den „Broken Windows“, im Kampf gegen die Kriminalität höchst umstritten, trifft auf die Berliner Sozialdemokraten voll und ganz zu: Wo die Verwüstung bereits um sich gegriffen hat und alle Hoffnung längst verloren ist, gibt es für den Einzelnen auch keinen Grund mehr, sich selbst zu disziplinieren.

In der Berliner SPD geht es zu wie in einem Stadtviertel, in dem das soziale Gleichgewicht längst umgekippt ist. Es regiert die blinde Zerstörungswut. Die Demontage des Führungspersonals wird zum Selbstzweck. Ein Parteivorsitzender ist schon kraft seines Amtes zum Hassobjekt ausersehen. Appelle von außen nützen wenig, weil sie nur Abwehrreflexe hervorrufen. Konstruktive Formen der Eigeninitiative gibt es nicht mehr. Wer sich an der Destruktion nicht beteiligt, wartet mit verschränkten Armen auf Besserung.

Solche Verhältnisse herrschen nicht nur im Berliner Landesverband. Auch die bayerische SPD ist von ihrer jahrzehntelangen Schattenexistenz zermürbt. Gegen die CSU hat sie keine Chance – wie in Berlin gegen die Milieuparteien des Westens und des Ostens, CDU und PDS. Dass die Landesvorsitzende Renate Schmidt eine Hoffnungsträgerin war, nützte ihr deshalb wenig: Sie verkörperte nur eine Hoffnung, die es in Wahrheit gar nicht gab. Wenn es zum Machtwechsel ohnehin nie kommen wird, muss sich auch niemand um des Erfolges willen zurückhalten. Wolkige Aufrufe zur Geschlossenheit können an dieser nackten Tatsache nichts ändern.

Allerdings ist Berlin nicht Bayern. Berlin ist Hauptstadt, und es ist – historisch gesehen – die SPD-Hochburg schlechthin. Deshalb kann sich die Partei nicht damit abfinden, dass der Stadtstaat auf Dauer zur sozialdemokratischen Diaspora zählt.

Die Parteienkonstellation im einzigen west-östlichen Bundesland hat bislang dazu geführt, dass die SPD – so tief sie in der Wählergunst auch sinkt – zum Regieren verdammt bleibt.

Diesem Umstand trägt die Partei dadurch Rechnung, dass sie Personal in den Senat entsendet und der CDU bei den entscheidenden Abstimmungen zur Mehrheit verhilft. Ansonsten geriert sie sich, als herrschten noch die Westberliner Verhältnisse der Achtzigerjahre: Sie spielt Oppositionspartei.

Nach den Wahlen vom vergangenen Herbst hat die SPD ganz kurz mit einem Strategiewechsel geliebäugelt. Sie wollte sich fortan als Regierungspartei profilieren. Die Senatsbildung wäre die Gelegenheit gewesen, künftiges Führungspersonal aufzubauen. Die Partei hat allerdings zwei der drei Posten mit Politikern besetzt, die dafür nicht in Frage kommen: Sozialsenatorin Gabriele Schöttler war schon in der Personaldebatte als Quotenfrau abgestempelt, und Schulsenator Klaus Böger strebt nach seiner Urwahl-Niederlage gegen Walter Momper keine Spitzenkandidatur mehr an.

Für Peter Strieder war es die ideale Konstellation. Als Parteivorsitzender und Supersenator hatte er sich die beste Startposition für den nächsten Karrieresprung gesichert. Zu ihm, so schien es, gab es keine vernünftige Alternative mehr. Darauf hat sich Strieder verlassen. Das war sein Fehler: Obwohl er in seiner Laufbahn so oft von den destruktiven Energien in der Berliner SPD profitierte, hat er sie diesmal unterschätzt.