„Bei Adam“ oder Treffpunkt Krakau

Krakau ist eine von neun Kulturhauptstädten im Jahr 2000. Nicht nur im Erscheinungsbild, auch im Kulturbetrieb gibt sich die Stadt historisch. Eine Stadttour von der Michalik-Höhle bis zum Sigismund-Turm – Kaffee und Cafés inklusive

von GABRIELE LESSER

Ganz Krakau verabredet sich „bei Adam“. Zärtlich klingt es und ganz selbstverständlich: Wo sonst in Krakau könnte man sich verabreden? Adam Mickiewicz ist der Nationaldichter Polens, steht auf einem hohen Sockel mitten auf dem Hauptmarkt, dem Rynek Glowny, und schaut von dort dem quirligen Treiben zu seinen Füßen zu. Schon um sechs Uhr in der Frühe bauen die Blumenfrauen ihre Stände mit Rosen, Nelken und Gerbera auf, Mönche in schwarzen und braunen Kutten eilen zur Frühmesse über den Markt in die Marienkirche, und aus den Seitenstraßen schallen die klappernden Hufe der Pferdedroschken. Die ersten Cafés für die Geschäftsreisenden aus Warschau machen auf, die schweren Gitter vor den Geschäften werden hoch gekurbelt, und schließlich öffnen auch die Krämerläden in den Sukiennice, den Tuchhallen mitten auf dem Hauptmarkt.

Zu jeder vollen Stunde ertönt vom großen Turm der Marienkirche das „hejnal“, ein Trompetensolo, das mitten in der Melodie abbricht. Es erinnert an einen Tatarenangriff auf die Stadt, der durch die rechtzeige Warnung des Turmbläsers abgewehrt werden konnte. Allerdings traf den mutigen Mann ein verirrter Pfeil in den Hals. Seither wurde das „hejnal“ nie wieder zu Ende gespielt. Jeden Tag, 12 Uhr mittags, hören es alle Polen im Land. Geschichte ist hier immer noch allgegenwärtig.

Richtig wach ist die Stadt aber erst um elf Uhr. Dann, wenn sich die ersten Studentenpärchen „bei Adam“ treffen, wenn die Touristen – beginnend „bei Adam“ – durch die Stadt geführt werden und die Schriftsteller und Künstler den Tag mit einem Besuch in einem der vielen Kaffeehäuser– ganz nostalgisch und stilbewusst – rund um den Rynek beginnen.

Direkt am Rynek, in den Tuchhallen, gibt es ein Wiener Café mit einem roten, einem blauen und einem grünen Salon. Hier pflegen elegant gekleidete alte Damen in raschelnden Chiffonkleidern, mit Handschuhen und Hut ihren Kaffee einzunehmen. Vornehm und freundlich nicken sie einander zu. In Krakau kennen sich die „besseren Kreise“. Berühmter noch als das Wiener Café ist die Jama Michalika in der nur wenige huntert Meter entfernt liegenden Floriansgasse. Die Michalik-Höhle ist ein Jugendstilcafé, das einen ganz eigenen Reiz durch die vielen Bilder, Marionetten und Puppen ausstrahlt, mit der früher einmal Künstler ihre Zeche bezahlen durften. In diesem Café, das nur ein einziges kleines Fenster hat und daher tatsächlich dunkel wie ein Höhle wirkt, in der nur ein paar Lämpchen wie zur Orientierung schimmern, gündete sich einst „Der kleine grüne Ballon“. Diese Cabaret-Gruppe hat in Polen Geschichte geschrieben, sie ist ein Mythos.

Ihre Tradition wird bis heute fortgeführt. Die Studenten der Jagiellonen-Universität laden jedes Jahr zu einem großen Cabaret-Festival ein, dessen Finale in den berühmten „Piwnicy pod baranami“, den „Kellern bei den Widdern“, gefeiert wird. Hier treten nur die besten Cabaret-Gruppen auf. Der weit verzweigte Keller war in der Zeit des Realsozialismus eine Oase des freien Worts. Piotr Skrzynecki, dem langjährige Direktor des Künstlertreffpunktes, war es gelungen, der Partei einen zensurfreien Raum abzutrotzen. Hier feierte über Jahre hin die Intelligenz des Landes. Skrzynecki, immer schwarz gekleidet, mit Schlapphut, den er fast nie ablegte, begrüßte mit rauher Stimme die Gäste, kündigte die „Sensationen“ an und schreckte auch nicht davor zurück, bei einem schwächeren Stück die Bühne zu stürmen und zusammen mit den Schauspielern etwas Neues und ganz Anderes zu improvisieren. Als er vor zwei Jahren starb, trauerte ganz Polen um ihn. Ohne ihn hat der Keller seine Anziehungskraft verloren. Noch immer meint man, hinter der nächsten Ecke müsste der alte Piotr stehen, eine Zigarette rauchend und mit einem Glas Wodka in der Hand.

Hinter dem Keller-Theater liegt die 1364 gegründete Jagiellonen-Universität, die zweite Hochschule Mitteleuropas nach Prag. Das Collegium Maius ist das älteste Gebäude. Die Türen sind so niedrig, dass man den Kopf beim Eintreten beugen muss. Vom inneren Arkadenhof führt eine Treppe zu den früheren Professorenwohnungen. Heute hält der Senat in den Räumen der früheren Bibliothek seine Sitzungen ab – unter den prüfend-strengen Blicken der vielen berühmten Gelehrten, die diese Universität im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hat. Im Collegium Maius ist auch das Museum der Jagiellonen-Universiät untergebracht. Besonders beeindruckend sind der Uhren-Globus und die zahlreichen astronomischen und physikalischen Gerätschaften, mit denen Nikolaus Kopernikus gearbeitet hat. Auf diesen „Ehemaligen“ ist die Universität besonders stolz.

Ein zweiter, inzwischen weltberühmter Absolvent der Jagiellonen-Universität ist Papst Johannes Paul II. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, als die Deutschen alle Universitäten in Polen schlossen und die Professoren in die KZs Sachsenhausen und Auschwitz verschleppten, hatte der junge Karol Wojtyła gerade mit dem Polonistik-Studium begonnen. Er setzte das Studium später an der Untergrunduniversität Krakau fort, spielte sogar mit dem Gedanken, Schauspieler zu werden, wechselte dann aber das Fach und studierte Theologie. Schon 1946 konnte er das Studium abschließen und die Priesterweihe entgegennehmen. Im Collegium Novum, das an dem Grüngürtel liegt, der die Altstadt umgibt, ist eine Gedenktafel an die verhafteten Professoren angebracht.

Über den Grüngürtel, die so genannten „Planty“, kommt man zum Wawel, der alten Königsburg Polens. Bis 1556 war sie Sitz der Piasten, der Jagiellonen und schließlich der Wasa. Danach wurde Warschau Hauptstadt Polens, und die Könige zogen um. Heute wohnen im Schloss und den Verwaltungsgebäuden rund 60 Personen, insgesamt 200 arbeiten hier. Pünktlich zum Jahr 2000 ist die vor rund zehn Jahren begonnene Renovierung des Schlosses und der Kathedrale fertig geworden. Im Mai eröffnete die prachtvolle Ausstellung „Wawel 1000 – 2000“. Bis Ende Juli können hier nicht nur die königlichen Insignien aus dem Mittelalter, Rüstungen aus der „Türkenschlacht“ vor Wien oder die Holzköpfe an der Decke in einem der königlichen Säle bestaunt werden, sondern auch auch die Friedensnobelpreis-Medaille Lech Walesas. In der Wawel-Kathedrale, deren Kuppel heute wieder in reinem Gold erstrahlt, wurden fast alle polnischen Herrscher gekrönt und beigesetzt. Außerdem – ab dem 19. Jahhundert, als es keine Könige in Polen mehr gab, auch berühmte Künstler und Nationalhelden. In der Krypta liegen die beiden Nationaldichter Polens, Adam Mickiewicz und Julisz Slowacki, sowie General Pilsudski, der Polen 1918 schließlich wieder in seine Unabhängigkeit führte.

Der Sigismund-Turm, in dem die zweitgrößte Glocke Polens hängt, lohnt den Aufstieg: Von dort hat man eine Aussicht auf ganz Krakau und versteht plötzlich, warum die Stadt auch das „polnische Rom“ genannt wird. Das Panorama wird beherrscht von Kirchen. Über 400 sollen es sein. Wenn alle Glocken läuten, hat man den Eindruck, als erhebe sich die Stadt und fliege langsam davon. Laut lärmend zum Abschied.

Der Wawel, wie auch der Marktplatz mit den eleganten Patrizierhäusern, die Marienkirche und die Tuchhallen spiegeln die Weltläufigkeit dieser Stadt über Jahrhunderte wider. Ab dem Mittelalter riefen vermögende Krakauer Bürger immer wieder Architekten aus Italien, Ungarn, dem Deutschen Reich, den Niederlanden und der K. u. k.-Monarchie nach Polen. So hat den Arkadenhof des Wawel Hans Dürer, der jüngere Bruder Albrecht Dürers, ausgemalt. Und für den später berühmt gewordenen Flügelaltar in der Marienkirche holten die Krakauer eigens den Nürnberger Bildhauer Veit Stoß nach Polen. Jeden Tag um 12 Uhr wird der Altar feierlich geöffnet, vom hohen Turm erschallt dann wieder das mitten in der Melodie abbrechende „hejnal“, und vor der Kirche „bei Adam“ treffen sich dann zur Mittagszeit die Verliebten.

Hinweis:Wenn alle Glocken läuten, hat man den Eindruck, die Stadt fliege langsam davon