Invasion der Freundinnen

Goldene Zeiten für Literatur (XII): Fräuleinwunder ist ein lächerliches Wort. Doch unter dem falschen Motto findet zurzeit genau die richtige Party statt

■ Abfall für alle: Die neue deutsche Literatur: Schnell geschrieben? Schnell gelesen? Schnell weggeworfen? Eine Artikelreihe über Popliteraten, Jungschriftsteller, Markterfolge und die Folgen

von NADINE LANGE

Dieses seltsame Wort. Eigentlich müsste Kalk aus der Tastatur rieseln oder eine kleine Staubwolke über dem Monitor aufsteigen, sobald es in einen Computer eingetippt wird – „Fräuleinwunder“. Es klingt nach Nierentisch, Petticoat und bestenfalls Elke Sommer. Gemeint sind aber deutschsprachige Schriftstellerinnen, die teilweise schon auf die 40 zugehen und oft auch das eine oder andere Kind haben. Wie blödsinnig dieser Begriff ist, fällt also schon nach etwa zehn Sekunden Nachdenken auf. Trotzdem hält er sich unglaublich zäh in der Diskussion um die aktuelle Literatur. Auch auf den Seiten der taz war dieses Jahr schon mehr als ein Dutzend Mal vom literarischen Fräuleinwunder zu lesen. Ist vielleicht doch was dran?

Zumindest so viel: Die JournalistInnen und vielleicht auch ein paar VerlegerInnen sind froh, dass sie diesen Ausdruck haben. Alle benutzen ihn, und sei es, um ihn abzulehnen. Denn ein bisschen hatte Spiegel-Redakteur und Wunder-Erfinder Volker Hage mit seinem Artikel „Ganz schön abgedreht“ aus dem letzten Frühjahr schon Recht: Es gab etwas Neues, das benannt werden musste. Nämlich eine ungewöhnlich große Zahl von erfolgreichen, relativ jungen Debütantinnen, die gute Bücher schrieben. Das war und ist auf jeden Fall wunderbar. Ein Grund zum Feiern – wenn auch zufällig unter einem dummen Partymotto.

Unverzärtelt, weltgewandt

Am großen Durchbruch der neuen Autorinnen erstaunt und erfreut vor allem, dass mit ihm auch das Bild der schreibenden Frau eine enorme Erweiterung erfahren hat. Vorbei sind die Zeiten, in denen Autorinnen nur als verzärtelte, der Welt abgewandte Wesen vorstellbar waren, die am liebsten Gedichte schreiben. Einen großen Teil der Vorarbeit erledigten dafür die Ladys aus der Superweib-Fraktion, die mit ihren Bestsellern voller Hausfrauenwut das alte Schreiberinnen-Klischee aufbrachen. Zu ihnen gesellen sich nun immer neue Schriftstellerinnen, die so verschieden schreiben wie sie sind. Alles ist erlaubt und alles wird gelesen.

Schatztruhe auf: Da finden sich zum Beispiel Alexa Henning von Lange oder Tanja Dückers, die sich durch ihre plauderigen Romane über hippe Metropolenjugendliche selbst zu Szenegrößen entwickelt haben. Sie sind die Pop-Vertreterinnen in der Riege der neuen Autorinnen und haben mehr mit Benjamin von Stuckrad-Barre oder Christian Kracht zu tun als mit den anderen weiblichen Newcomern. Keine einzige Verbindungslinie führt etwa zu den etwas manirierten Erzählungen einer sich dem Betrieb eher entziehenden Judith Hermann. Ihr erfolgreiches Debüt „Sommerhaus, später“ verhalf der Kurzgeschichten zu einer kleinen Renaissance, an der sich wiederum vor allem Frauen beteiligten.

So veröffentlichte etwa die Ex-Taxifahrerin Karen Duve nach ihrem „Regenroman“ die Sammlung „Keine Ahnung“, in der eine Reihe spannend-verschrobener weiblicher Ichs zu erleben ist. Ebenfalls meist aus weiblicher Erzählperspektive schreibt die 25-jährige Filmstudentin Maike Wetzel ihre Geschichten („Hochzeiten“), in denen es nie richtig klappt mit der ersehnten Nähe zwischen den Figuren. Einsamkeit, Melancholie und Kälte – dieser Dreiklang scheint den Protagonistinnen von Hermann, Duve und Wetzel gleichermaßen vertraut zu sein. Mehr als eine sehr weitläufige Verwandtschaft lässt sich zwischen ihnen jedoch nicht erkennen. Zu unterschiedlich sind die Tonarten, in denen die Autorinnen das Thema variieren.

Das gilt auch für ihre Kolleginnen: Ein verbindendes Genre oder eine ähnliche Sicht bei ihnen feststellen zu wollen, hieße sie in einen weiteren unsinnigen Begriff hineinzuzerren. Es ist vielmehr so, dass die deutschsprachigen Autorinnen sich in jede literarische Ecke und in jeden sprachlichen Stil wagen. Da muss nicht mehr darauf geachtet werden, ob ein Buch kompatibel ist mit der verdienstvollen Fischer-Reihe „Frau in der Gesellschaft“ oder ob es vielleicht in das „Starke-Frauen“-Regal passt. Thematisch sind endlich alle Beschränkungen gefallen: Ohne Probleme finden LeserInnen nun Bücher, in denen Frauen zum Beispiel von einer skurrilen Weltumrundung auf einem Frachtschiff oder vom Koch in einem verwahrlosten Provinzhotel erzählen.

Neben den neuen Themen und Settings haben die Autorinnen die so genannten Frauenthemen aber nicht aus ihrem Schreiben verbannt. Sie haben sie aus der alten Nische einfach mitgenommen und sie damit ein Stück weit befreit. Leserinnen und vor allem Leser, die früher bei den Worten „sexueller Missbrauch“ sofort abwinkten oder meinten, dass Mutter-Tochter-Beziehungen sie nicht interessierten, hielten plötzlich die Bücher der Schweizerin Zoë Jenny in der Hand, in denen es um ebendiese Dinge geht. Sicher waren die vielen Fotos, Interviews und Porträts der zerbrechlich wirkenden 26-Jährigen an diesem Effekt stark beteiligt. Doch man sollte diesem Hype nicht undankbar sein, schließlich hat er in seinem weiteren Verlauf noch vielen weiteren formidablen Frauenfiguren zu einem großen Publikum verholfen – und das haben sie auf jeden Fall verdient.

Da sind zum Beispiel die wunderbaren Freundinnen-Paare von Elke Naters. Sie beneiden sich, beobachten sich und sind doch ganz tief miteinander verbunden. Eine von ihnen sagt in „Lügen“: „Es gibt Freundinnen, die fallen sich ständig um den Hals und umarmen sich oder halten sich an den Händen. Das machen wir nie. Wir küssen uns nur manchmal, zur Begrüßung oder zum Abschied, das heißt, das ist nicht einmal ein richtiger Kuss, wir berühren uns mehr mit den Wangen, aber auch nur selten, weil wir uns sowieso ständig sehen, und da hätten wir viel zu tun, wenn wir uns ständig begrüßen oder verabschieden würden.“ – Schnell und einfach gibt Naters hier einen tiefen Einblick in die Beziehung ihrer beiden Hauptpersonen. Und so geht es weiter: immer genau, immer zum Häkchen dahinter machen. So ist selten über die Mechanik von Frauenfreundschaften geschrieben worden.

Elke Naters haben ihre beiden Bücher und ihre Mitarbeit am Internet-Literatursalon „Am Pool“ zu einer der bekanntesten deutschen Gegenwartsautorinnen gemacht. Sie wurde bereits ins Französische und Italienische übersetzt, war auf dem Spiegel-Titel, posierte für eine schicke Zigarettenreklame und schreibt derzeit in Bangkok und Berlin an ihrem dritten Buch. Ja, sie hat einen dezenten Glamour in die Szenerie gebracht. Man kann nur hoffen, dass er noch möglichst lange weiter schillert.

Und nach dem Boom?

Die Freude über die aktuelle Literatur von deutschsprachigen Frauen bringt aber auch ein paar Probleme mit sich. Allzu leicht vernebelt sie nämlich den Blick und lässt uns glauben, jetzt wäre alles gut. Doch was, wenn das Wunder nur eine Mode war? Natürlich werden die Bücher von Deutsch schreibenden Autorinnen nicht von heute auf morgen verschwinden. Schließlich gab es sie auch schon vor dem Boom. Und etwas bleibt immer. Dennoch kann die Position von Frauen in der Bücherwelt noch lange nicht als so gefestigt angesehen werden wie die ihrer männlichen Kollegen, die das Schreiben als Beruf schon ein paar Jahrhunderte länger ausüben.

Schreibende Frauen sind immer eine Ausnahme von dieser Regel gewesen. Das kann leider nicht einfach vom Tisch gewischt werden. Irritierend ist zum Beispiel, dass bei Literaturwettbewerben meist wesentlich mehr Frauen als Männer ihre Texte einschicken, aber unter den PreisträgerInnen das Verhältnis wieder ausgeglichen ist. Auch die ganz großen Literaturpreise, wie etwa der Büchner-Preis, gehen überwiegend an Männer. Nur beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt ist das etwas anders. In diesem Jahr lasen zehn Männer und sechs Frauen. Mit Julia Franck und Susanne Riedel landeten immerhin zwei deutsche Autorinnen unter den vier PreisträgerInnen. Im letzten Jahr gewann Terézia Mora den Wettbewerb. Wahrscheinlich hängt diese Bilanz auch mit der Namensgeberin des Preises zusammen, der Tribut zu zollen ist. Schließlich war die von der Gruppe 47 geehrte Ingeborg Bachmann eine Art „Urfräuleinwunder“ der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

Kein gutes Zeichen für die Literatur von Frauen ging von der Tutzinger Literaturtagung im Frühjahr aus: Lediglich zwei Autorinnen (Zoë Jenny und Alissa Walser) waren auf das zehnköpfige Podium geladen, von dem sich Gastgeber Maxim Biller eine Standortbestimmung der neuen Literatengeneration erhoffte. Auch Austausch und Gruppenbildung waren seine Ziele. Und dann kam Billers wortgewaltige Abrechnung mit der gegenwärtigen „Schlappschwanzliteratur“, die nichts mehr wage, unpolitisch sei und keine Moral habe. Mit der Wahl seines phallischen Kampfbegriffes – und eine solche Wahl ist bei dem Chefpolemiker niemals zufällig – nimmt Biller die Frauen ganz offensichtlich von seiner Kritik aus. Das geschieht aber nicht, weil diese seinen hohen Maßstäben gerecht würden, sondern weil sie für ihn schlichtweg die falschen Adressatinnen sind. Es scheint, als seien in Billers Verständnis Autorinnen nicht in der Lage, die von ihm geforderte harte Literatur zu schreiben. So was ist also Männersache. Was Billers ebenfalls schreibende Schwester Elena Lappin wohl über den Anfall ihres Bruders denkt?

Es wäre schön, wenn das Wunder der Literatur von Frauen immer weiterginge. Irgendwann wäre es dann vielleicht so etabliert, dass es keiner besonderen Erwähnung mehr bedürfte. Auf Buchdeckeln stünden genauso oft männliche wie weibliche Vornamen. Bis es soweit ist, können wir ein bisschen weiter staunen, zum Beispiel über das im Herbst erscheinende, spannende Debüt der Berlinerin Carmen von Samson. Es heißt: „Eine Invasion von Frauen“.