Lehrstunde von Rau

Bildung ist Kultur und nicht bloß Effizienz, sagt das Staatsoberhaupt in einer Grundsatzrede zur Bildungspolitik. Rohrstock für Schröder und Herzog

BERLIN taz ■ Bundespräsident Johannes Rau hat den in Berlin versammelten Bildungsministern gestern die Leviten gelesen. Rau kritisierte in einer Grundsatzrede zur Bildungspolitik kaum verklausuliert, dass die von den Ministerialen der Länder in Angriff genommenen Bildungsreformen ungenügend seien. Sie beschränkten sich darauf, „die Erkennntnisse der Organisationslehre und der Betriebswirtschaft auf Schulen und Hochschulen zu übertragen“. Offenkundig eine Anspielung Raus auf Bildungsreformen, die zur Zeit daran gemessen werden, ob Lehranstalten effizient und schnell Berufsfertigkeiten vermitteln.

Der Präsident setzte dem im Berliner Rathaus seine Vorstellung von einem Bildungsleitbild für Schulen und Hochschulen entgegen: „Dem Menschen zu ermöglichen, die Welt selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten.“

Die Gastgeber Raus, Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD) und Bayerns Wissenschaftsminister Hans Zehetmair (CSU), reagierten zerknirscht auf die Rede. Der Präsident solle sich keine Sorgen machen, kommentierte Zehetmair die mahnenden Worte Raus, „dass wir alles wegreformieren, was gut war“.

Bulmahn und Zehetmair luden im Anschluss an die Rau-Rede mehrere hundert Bildungsexperten zum ersten Kongress des „Forums Bildung“. Das ist mit zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen besetzt, darunter auch Schüler, Studenten und Tarifpartner, die Anstöße für Veränderungen im Bildungswesen geben sollen. Erste Ergebnisse erwartet die Bildungsministerin im kommenden Jahr.

Raus Rede war als Folgeveranstaltung an die Ansprache von Roman Herzog gedacht. Dieser hatte 1997 Bildung zum „Mega-Thema“ erklärt. Rau distanzierte sich von seinem konservativen Vorgänger (Schluss mit „Kuschelpädagogik“) und setzte seine Akzente dagegen: So müsse unter anderem die Integration von Ausländern in der Bildung eine viel zentralere Rolle spielen als bisher. Und er bemängelte den geringen Anteil von Frauen an Universitätsprofessuren.

Rau hatte als Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens eine Bildungskommission eingerichtet. Von deren Wissen zehrte er nun bei seinen konkreten Forderungen: Es müssten erheblich mehr Mittel für die Grundschulen und Kindergärten bereit gestellt werden. Österreich oder Japan wendeten 50 Prozent mehr für diese Schulformen auf als Deutschland. Rau verknüpfte damit die Forderung, dass die Grundschule bis zur sechsten Klasse dauern müsse. Außer in Deutschland gilt diese Praxis überall in Europa.

Für Roman Herzog und Bundeskanzler Schröder hielt Rau den Rohrstock bereit. Er verteidigte die Lehr- und Lernformen der Reformschulen gegen den Vorwurf der Kuschelpädagogik: „Ich kann nicht verstehen, dass gelegentlich vor einer Spaßschule gewarnt wird.“ Und zu Schröders alter Äußerung, Lehrer seien faule Säcke, bemerkte Rau: Nicht genug werde denjenigen gedankt, die „unsere Kinder auf das Leben vorbereiten“.

CHRISTIAN FÜLLER