Eine Anti-Big-Brother-Soap zum Zappen

Allemaal Indiaan aus Belgien entpuppt sich auf Kampnagel als lupenreine Seifenoper  ■ Von Karin Liebe

Big Brother im Theater ist noch eine Nummer bigger als im Fernsehen. Statt in einen platten Container können wir gleich in zwei originalgroße einstöckige Häuser reinglotzen. Im Gegensatz zur Fernseh-Variante um Zladdy, Jürgen und Manu passiert hier was. Durch vier hell erleuchtete Fenster sehen wir zwölf Leute, wie sie rauchen, essen und sich unterhalten, auch wie sie sich fetzen und prügeln und fast vergewaltigen. Also mehr Stoff, aber auch mehr Arbeit: Kameraführung und Schnitt müssen wir diesmal selbst übernehmen.

Anfangs ist das Cutten gar nicht so leicht. Denn bei Allemaal Indiaan, einer Gemeinschaftsarbeit der belgischen Gruppen Victoria und Les Ballets C. de la B., die am Wochenende beim Sommerfestival auf Kampnagel gastierte, herrscht zuerst das pure Chaos. Vier Parallelhandlungen, das Ganze auch noch auf Flämisch. Bis endlich die deutschen Obertitel – geschickt an den Hauswänden platziert – aufleuchten, zappt das Auge hilflos hin und her. Da läuft hinter dem Fenster rechts oben eine ältere, leicht prollig wirkende Frau im offenen Bademantel herum und stylt sich. Dazwischen jüngere Leute: ein Typ mit Indianerkopfschmuck, einer mit Rastalocken und zwei zu Popmusik tanzende Mädchen. Und unten dreht sich die Trommel einer riesigen Waschmaschine. Im Nachbarhaus legt derweil eine dralle Blondine im Erdgeschoss den Kopf auf den Tisch, im ersten Stock wuseln ein paar Jungs herum. Während wir noch über die Ähnlichkeit der Blondine mit dem „Container-Luder“ Sabrina staunen, zappen wir schnell hinüber zu einem Mann mit Feuerwehrhelm in der Gasse zwischen den Häusern. Und verpassen glatt, wohin die Blondine plötzlich verschwunden ist. Bis man begreift, wer in welcher Beziehung zu wem steht, dauert – eigentlich so lange, bis das Stück zu Ende ist.

Genau diese Verwirrung macht die Inszenierung trotz aller Trivialität so spannend. Der Zuschauer wird mitten ins alltägliche Leben zweier Familien hineingeworfen. Merkwürdigerweise als „Anti-Soap“ angekündigt, ist Allemaal Indiaan (auf deutsch: Jeder ist ein Indianer) doch eine lupenreine Soap im Arbeitermilieu. Geboten werden: zwei allein erziehende Elternteile (eine Mutter sitzt in der Psychiatrie, mehrere Väter sind abgehauen), zwei behinderte Kinder (eins blind, eins „zurückgeblieben“), zwei gescheiterte aggressive Akte (einmal Selbstmord, einmal Vergewaltigung), dazu noch eine Prise Rassismus und Sexismus. Nur Drogen und Inzest, die beliebten Problemthemen, ersparen uns die Autoren Alain Platel und Arne Sierens, die auch gemeinsam Regie führen.

Streng genommen ist ihre naturalistisch erzählte Geschichte gar keine Geschichte, sondern ein simultanes Geplapper und Gehampel. Erst allmählich werden dynamische Strukturen sichtbar, bis zum Schluss all die zappeligen Bewegungen, das hektische Hin-und-Her-Gerenne, die akrobatischen Turnereien über die Dächer fast zum Stillstand kommen. Hier spürt man die Handschrift von Alain Platel, der als Choreograf theatralischer Tanzstücke bekannt wurde. Bewegung läuft ausnahmsweise nicht in Form exaltierter Ges-tik und überhöhter Körperkunst ab, sondern als natürlicher Fortbewegungsdrang.

Dieser so sichere wie originelle Umgang mit Rhythmus hebt Allemaal Indiaan über platt naturalistisches Theater hinweg. Trotzdem: Vieles bleibt im Plakativen, ist zu laut und zu grell ausgeleuchtet. Auch die depressive Putzfrau, die sich halbnackt aufs Dach stellt, bis sie von den anderen heruntergeholt wird, stellt ihr Leiden allzu demons-trativ zur Schau. Letztlich aber – und das ist der Unterschied zum zynischen Big-Brother-Motto „Du bist nicht allein“ – zeigt Platel, dass alle vereinzelte Indianer in ihrem ganz persönlichen Reservat bleiben: die Mutter, die ihre älteste Tochter nicht loslassen kann, der Vater, der voller Angst die Rücckehr seiner Frau aus der Psychiatrie erwartet - und die Kinder sowieso.

Das Sommertheaterfestival wird heute fortgesetzt, allerdings nicht auf Kampnagel: Atlantic 306 von Angels Margarit läuft ab 19 Uhr alle 20 Minuten im Hotel Atlantik