Eine Bilanz in 500 Bildern

■ Expo-Kultur in Hannover: Das Sprengel-Museum leistet sich die bisher größte und wohl beeindruckendste deutsche Fotoausstellung „how you look at it“ – das 20. Jahrhundert im Spiegel seiner allerbesten FotografInnen

Der Auftakt der üppigen Schau wirft selbstbewusst den ersten Anker aus: Mit seinen Ansichten des alten Paris hatte der Fotograf Eugene Atget kurz nach der Weltausstellung in der französischen Metropole den urbanen Aufbruch in die Moderne dokumentiert. Straßen, Plätze, Treppenhäuser, Marktstände und Ladenauslagen. Walter Benjamin entdeckte in den Bildern die Stadt – aufgeräumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter gefunden hat. Die Kuratoren der ersten Ausstellung des Expo-Kulturprogramms im Sprengel Museum Hannover sehen in Atgets Arbeit den Beginn einer fotografischen Sprache, die das 20. Jahrhundert begleitete und prägte: die „straight photography“.

500 Arbeiten haben Thomas Weski und Heinz Liesbrock zusammengetragen, um mit der Fotografie den shooting star unter der bildkünstlerischen Gattungen zu dokumentieren. Fotos konnten jüngst derart an Popularität und Ansehen gewinnen, dass es einer Weltausstellung zum Jahrtausendauftakt gut steht, wenn sie diesem Medium bilanzierenden Ehrgeiz widmet.

Allerdings birgt das frische Thema auch Gefahren. Von einer allgemeinen Fotografiegeschichte als Basis kuratorischer Arbeit ist man weit entfernt. Und der jüngste Imagegewinn könnte dazu verleiten, nur den aktuellen Konjunkturen und Trendsettern aufzusitzen.

Das Kuratoren-Duo aus Hannover und Münster hat sich in seiner Schau „how you look at it“ vielfältig gegen solche Gefahren gewappnet. Im Untertitel „Fotografien des 20. Jahrhunderts“ wird gleich jeder Anspruch auf die Geschichte der Fotografie zurückgewiesen. Mit der Auswahl von knapp 40 Positionen folgt man der Entscheidung für eine bestimmte, wie man meint, Epochen prägende Form der Fotografie. Und man formuliert auch bewusst subjektive Auffassungen.

Der retrospektive Anspruch wird also bescheiden niedrig gehängt. Zur Vermittlung und Illus-tration des eigenen Ansatzes aber hat man größte Sorgfalt und Phantasie in die Kontextualisierung der einzelnen Positionen investiert. Schon im ersten Saal zeigen sich anschaulich Thesen, aber auch direkte Anspracheformen, die diese äußerst sehenswerte Ausstellung durchgängig prägen.

Der Besucher kann verfolgen, wie Paul Strand Atgets Blick in eine mögliche Richtung weiterführt, indem er Bilder von den Straßenschluchten New Yorks bis an die Grenze der Abstraktion hin verdichtet. Charles Sheeler inszenierte mit Licht, Perspektive und Ausschnitt das im Alltagsbild verborgene formale Eigenleben der Architektur.

Die Porträtalben August Sanders rücken die frühen soziologischen Interessen der Zunft in den Blick. Mit Arbeiten von Walker Evans, Robert Frank, Stephen Shore und William Eggleston ist die Auseinandersetzung mit der US-Gesellschaft dokumentiert. Unterschiedliche Generationen und Haltungen treffen hier zusammen, allen gemeinsam ist, was direkte Fotografie im Kern ausmacht: die Anknüpfung an das Sichtbare, Wirkliche und dessen Überführung in eine Vision, ein neues Bildbewusstein, eine neues Menschen- und Weltverständnis durch die Mittel des Mediums selbst, durch Farbe, Schärfe, Licht.

Wenn es zu Anfang auch so etwas wie einen entwicklungsgeschichtlichen Kurs gibt, ist das Bauprinzip der Schau nicht eigentlich chronologisch. So hängen gleich neben Atget Straßenbilder von Thomas Struth, die verwandte Ansätze über einen Bogen von rund hundert Jahren schlagen. Auch wenn sich unter den Sozio- und Psychogrammen Amerikas die in der Haltung dezidierteren Außenseiterporträts einer Diane Arbus anschließen, ist dies nicht auf eine lineare Abfolge verkürzt.

Zusammen mit Fotos von Brassai und Boris Michailov bieten sich hier Epochen- und Kulturenvergleich an. Und mit den Bildstrecken, die die Besonderheit des jeweiligen fotografischen Blicks verstärkt zur Geltung bringen, lässt sich auch die Einzelposition entsprechend würdigen.

Immer wieder finden sich aufschlussreiche Korrespondenzen zu zentralen Motiven, Haltungen und grundsätzlichen ästhetischen Fragen der Fotografie. In der Gegenüberstellung der auf den ersten Blick formal verwandten Porträts von Thomas Ruff und Rineke Dijkstra zeigen sich die unterschiedlichen Ansätze und Ziele: hier die provozierende Beschränkung auf das was Fotografie kann, die Abbildung der Oberfläche nämlich, dort der Versuch der analytischen Durchleuchtung der Persönlichkeit in einer Extremsituation und unter Ausschluss jeglicher erläuternder Bildattribute.

Mit eindrucksvollen neueren Porträts („Frauen“) und mittlerweile schon klassischen Arbeiten wie „Waffenruhe“ ist auch Michael Schmidt präsent, sicherlich einer der aktuell wichtigsten und zudem fotogeschichtlich kompetentesten Fotografen. Mit Blossfeldt, den Bechers und Sheeler zeigen sich die Typologen, mit Jeff Wall, Axel Hütte und August Sander sind verschiedene Typografen vertreten.

Eine wichtige Prägung erhalten die unterschiedlichen Einbettungen durch eine zentrale Besonderheit der Ausstellung. Die Fotografien werden mit rund 40 Skulpturen und Malerei konfrontiert. Mit diesem kunsthistorisch keineswegs abgesicherten Vorgehen betreten die Kuratoren Neuland. Sie gehen dabei von der These aus, dass fotografische Vorstellungen neben der Literatur von den anderen Bildkünsten geprägt werden und diesen auch ihren Stempel aufdrücken.

Dem Betrachtenden bringen diese Korrespondenzen mal Erläuterungen, etwa wenn On Kawaras Datumbilder oder Martin Honerts' Foto mit den biografischen, archivierenden Fotoarbeiten Boltanskis, Hans-Peter Feldmanns und Nicholas Nixons gezeigt werden. Mal könnten sie zusätzliche Perspektiven öffnen und Gewichtungen schaffen, etwa wenn Diane Arbus neben Francis Bacon erscheint oder Agnes Martins lichte Farbfelder den Blick auf die amerikanische Landschaft noch weiter aufhellen und beinahe entmaterialisieren.

Wenn auch die Autoren die Reichweite des retrospektiven Anspruchs relativieren und die subjektive Setzung betonen: Der Epochenblick im globalen Kontext der Weltausstellung Expo wird notwendigerweise Kritik provozieren und Fragen nach der Auswahl aufwerfen. Warum ist der und die nicht dabei, warum die Beschränkung auf die europäische und nordamerikanische Fotografie?

Letzteres begründet Weski damit, dass die von ihm favorisierte, als Leitwährung das Medium nachhaltig prägende „direkte Fotografie“ nur in den westlichen Metropolen ihre wesentliche Ausprägung erfuhr. Aber solcher Rechtfertigung bedarf es gar nicht: Die Ausstellung ist derart klar, material- und assoziationsreich präsentiert, dass sie selbst in der denkbar kritischsten Haltung nur mit Gewinn rezipiert werden kann. Jede Vermisstenanzeige eröffnet einen neuen Kontext – how you look at it.

Rainer Bessling