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die wundersame woll-wurst

von JUTTA HEESS

Ein Bezeichnungsnotstand mit Kopfschütteln brach vor einigen Tagen in der kleinen Kneipe um die Ecke aus. Das Objekt, das mich und meine Begleiter onomasiologisch fast verzweifeln ließ, war an einer Dame am Nachbartisch dran.

Zu später Stunde schlüpfte sie kurzerhand in ein vermutlich Kleidungsstück zu nennendes Etwas, das unter uns zu einer hitzigen Debatte führte. Das, was sich die modische Frau überstülpte, war ein langer Ärmel, der über zwei Arme reichte, in schwarzem Strick. „Guckt mal, die trägt einen Armschlauch!“ – so begann unsere Namenssuche für das seltsame Oberteil. Und wir sammelten emsig Vorschläge: Stola für Arme (auch weil so wenig Material bestimmt nicht teuer ist), armenischer Ärmelschoner, Achselsoire, Armbinde. Ich plädierte schließlich für Schultergürtel; gut im Rennen waren auch Nackenstrumpf und Härmelin – aber nur dann, wenn „es“ aus Pelz ist. Ob die Leid- und Dingsbumstragende gegenüber unsere Diskussion verfolgte, war nicht auszumachen.

Trotz anbrechender Dunkelheit behielt sie eisern ihre Sonnenbrille auf, Blickkontakt und Reaktionstest ausgeschlossen. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten. So problematisierten wir eifrig weiter.

Bei Vivienne Westwood würde es sicher „Short Shoulder-Shirt“ heißen, bei Jean-Paul Gautier vielleicht „Bric-à-bras“. Nur: Wie wäre für das geschmeidige Stück der Haute-Couture eine internationale Größenordnung möglich? Das ginge am besten mit einem neu einzuführenden Mode-Maß: die Spannweite. Und bei der Anprobe müsste es dann, Auge in Auge mit einem gezückten Zollstock, heißen: „Machen Sie mal die Arme breit!“

Trotz aller Unkerei konnten wir nicht leugnen, dass die wundersame Woll-Wurst sehr multifunktional ist. Wenn man sie selbst nicht trägt, könnte man seine Python darin wärmen. Oder das rechte Bein. Danach das linke, immer abwechselnd. Überhaupt, von wegen Wärme: Im Winter könnte das Ohne-Titel-Teil mit Holzwolle ausgestopft werden und den Türschlitz abdecken, damit es nicht so unten durch zieht. (Wie heißt das eigentlich? Türhüter? Kälte-aus-der-Wohnung-Raushalter?) Trendy und praktisch zugleich, das Dingsda. Wir konnten die Blicke nicht mehr abwenden von dieser geheimnisvoll-faszinierenden Mode-Offenbarung. Vermutlich war unser Entzücken auratisch unterwegs und blieb schließlich selbst der Sonnenbrillen- und Uups-Trägerin nicht verborgen. Vielleicht hatte sie auch einfach die Ärmel voll von unserem Gekicher, stand auf und schritt entschlossen zu unserem Tisch. „Wieso lacht ihr denn so doof?“, inquisitionierte sie unwirsch, und wir konterten forsch: „Wie heißt dein Oberteil?“ Die Frage brachte die Dame aus der Façon, ihr Gesicht lief rot an und ohne uns eine Antwort zu geben, warf sie ihre mit der Strickhaut überzogenen Arme in die Höhe, stieß und zog den letzten Schrei aus und verschwand – spur- und ärmellos. Die Kneipe war daraufhin um eine Attraktion ärmer. Und wir? Arm dran waren wir, denn wir hatten den Bezeichnungsnotstand nicht überwunden – und von nun an auch nichts mehr zu lachen.

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