Zarte Halbstarke

Angst essen Ideologie auf: Geoffrey Beattie ist Psychologieprofessor, sein Romandebüt „Corner Boys“ erzählt vom Erwachsenwerden irischer Jugendlicher zwischen Royalisten, Oranier-Paraden und IRA

von JÜRGEN BERGER

Sie stehen unten an der Ecke und sind immer auf dem Sprung. Wo die Fluchtwege sind, müssen sie genau wissen, und auch wo die unsichtbaren Belfaster Demarkationslinien verlaufen. Übertreten sie eine der Grenzen und begegnet ihnen im katholisch-protestantischen Niemandsland ein Mädchen, riechen sie förmlich, ob es eine von ihnen oder eine „Katholenschlampe“ ist.

Um so eine würde eigentlich auch James einen weiten Bogen machen, und wenn es nur aus Angst vor Rache aus den eigenen Reihen ist. Aber mit der Liebe ist das ja so eine Sache, vor allem, wenn man wie James alles andere als ideologisch verbiestert ist. Die Schule hat er zwar geschmissen. Er lungert aber eher auf der Straße, als dass er sich wie sein Freund Tucker in eine der paramilitärischen Royalisten-Brigaden hineinziehen ließe.

Man kann ihn sich als schmächtig-androgynen Typ vorstellen und als sei er gerade einem frühen Pasolini-Film entsprungen. In diese Richtung jedenfalls deutet das Bild auf dem Bucheinband von Geoffrey Beatties „Corner Boys“, mit dem der in Manchester lehrende Psychologieprofessor ein außergewöhnliches Romandebüt vorlegt. Außergewöhnlich insofern, als der in Belfast geborene Debütant nicht dem gängigen Erzählschema folgt und aus dem Leben von katholischen und dem republikanischen Freiheitskampf zugeneigten Jugendlichen erzählt. Beattie bewegt sich auf der anderen Seite und versucht den Abgründen in Belfaster Wohnvierteln nachzuspüren, in denen antikatholische Oranier-Orden das Sagen haben und Jugendliche mit Heldentaten royalistischer „Freiheitskämpfer“ geködert werden. Anders als etwa bei Robert McLiam Wilson oder Sean McGuffin hat man es nicht mit jener Ausformung irischer Erzählkunst zu tun, in der auch des Lebens schwarze Seiten mit einer Fülle von seltsam-verrückten Geschichten ironisch gebrochen werden. Beattie schreibt eng an einem Erzählfaden entlang, lässt seinen jugendlichen Antihelden erzählen und vermeidet auch konsequent, das heutige Nordirland von seiner jüngsten Geschichte her zu beschreiben, wie Roddy Doyle das gerade in „Henry der Held“ getan hat.

Sein James bewegt sich immer nur dort, wo er tatsächlich gerade ist. Und da Beattie so eng an seiner zarten Hauptfigur in einer religiös-fundamentalistischen Welt bleibt, kann der Eindruck entstehen, er verbreite unter der Hand protestantische Propaganda nach dem Motto „Arme Royalisten-Jungs in Angst vor böser IRA“. Die Corner Boys sind natürlich die Sympathieträger des Romans, und ihre mit chauvinistischen Sprüchen überspielten Angstpotenziale sind natürlich in Richtung republikanischer IRA-Kämpfer ausgerichtet.

Irgendwann scheint Beattie befürchtet zu haben, man könnte ihn falsch einordnen. Also erlebt James einen geradezu unglaublichen Reifungsschub, auf dass ihm pädagogisch korrekte Sätze entschlüpfen wie: „Das Schlimme an der Organisation war, sie ließ zu, dass jeder Befehle erteilen konnte oder welche ausführen musste, und am Ende wäre keiner richtig verantwortlich für diesen Mann, der sich da vor uns krümmte.“

Der zarte Halbstarke ist gerade Zeuge einer martialischen Einschüchterungsaktion durch ein Royalisten-Kommando geworden, der eigentliche Sturz ins Bodenlose allerdings steht ihm noch bevor. Zu diesem Zweck wartet Beattie mit einer negativen „Romeo und Julia“-Story auf und lässt den Corner Boy auf seine erste Liebe treffen. Sie heißt Shannon und ist natürlich katholisch. Am Ende sieht es aus, als habe die katholische Julia den protestantischen Romeo lediglich benutzt, um eine innerkatholische IRA-Rachegeschichte erledigen zu lassen. Spätestens da wissen wir, dass das Böse überall lauert. Und wir wünschen James, er möge seine Shannon noch einmal treffen – drüben in England, wohin sie sich angeblich abgesetzt hat und wo er studieren wird.

Geoffrey Beattie: „Corner Boys“. Aus dem Englischen von Christa Schuenke. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000, 264 Seiten, 29,80 DM