... und im Fernsehen nur Schnee

Langeweile am anonymen Ort: Angels Margarits Performance Atlantic  ■ Von Annette Stiekele

Hotelzimmer verströmen immer so eine eigenartige Atmosphäre, Anonymität, gepflegte Behäbigkeit und vielleicht ein wenig Luxus. Ein Durchgangszimmer dient als Zuhause für kurze Zeit.

Traurige Fado-Gesänge durchziehen den Raum, ein Hotelzimmer im Hamburger Kempinski Hotel Atlantic. Nicht irgendeines, sondern die vornehme Albert Ballin Suite, ein Eckzimmer mit Als-terblick.

Der Himmel ist bewölkt, der Tag geht über in sanfte Abendstimmung. Auf dem Bett räkelt sich eine Frau, die Tänzerin Angels Margarit. Sie wälzt sich hin und her, geht zum Fernseher, der noch ein Schneebild zeigt, wendet sich zum Sessel, wirft sich auf den Boden. Plötzlich brechen Gefühle ein in diese gepflegte Langeweile. Von Verlorenheit, Einsamkeit und geheimer Sehnsucht. Nach und nach erobert Margarit den Raum.

So ungewöhnlich wie die Kulisse ist auch das Projekt. Angels Margarits Tanzperformance „Atlantic 306“ im Rahmen des Internationalen Sommertheater Festivals dauert fünfzehn Minuten, und nur zehn Zuschauer können es sich gleichzeitig, in einer Reihe an einer Wand stehend, anschauen.

Eigenartige Gefühle von Voyeurismus fallen den Betrachter unweigerlich an, wenn er in eine so private Veranstaltung aus so kurzer Entfernung mit dem eigenen Blick eindringt. Und doch wird er den Raum sehr beschwingt wieder verlassen und ein unwirkliches Moment der Nähe erfahren haben.

Allmählich erschließen sich die Objekte im Raum, ein Koffer steht aufgeklappt in einer Ecke, an der gegenüberliegenden Wand liegen persönliche Gegenstände verstreut auf dem Boden, Fotos, eine Sofortbildkamera, ein Buch über Tanz, eine Rose, ein Parfum, ein Aschenbecher (Ausstattung: Carme Masia). Abwechselnd wirft sich die zierliche dunkelhaarige Tänzerin in ganz normaler Kleidung auf den Boden, vollzieht Kreisbewegungen, springt auf und wirft sich aufs Bett. Dann wieder geht sie zum Fenster, zieht die Vorhänge auf, setzt sich in den offenen Rahmen, Straßengeräusche dringen herauf. Später schließt sie das Fenster wieder und zieht die Vorhänge zu.

Langsam verliert der Raum seine Fremdheit, nimmt ihre Person und ihre Wärme in sich auf. Als weiterer Erzähler fungiert der Fernseher, auf dem parallel eine Videosequenz abläuft. Manchmal spiegelt sie die Sichtweise der Tänzerin, manchmal einen Blick aus dem Fenster. Dazu ertönt minimalistische Elekt-ronik von Joan Saura.

Für langjährige Festivalbesucher sind Margarit und ihre Compania Mudances aus Barcelona alte Bekannte. Seit 1988 waren sie regelmäßig alle zwei Jahre mit dabei. Margarit tanzt seit 1973, 1983 gründete sie mit fünf Tänzern ihre Formation Mudances. Ursprünglich hatte Angels Margarit die Choreographie „Solo für ein Hotelzimmer“ in einem Strandhotel im katalanischen Badeort Sitges entwi-ckelt. Dort entdeckte sie Festivalleiter Dieter Jaenicke und holte das Ereignis nach Hamburg. Das war vor zehn Jahren. Für die diesjährige Aufführung von „Atlantic 306“ hat Margarit nur kleine Veränderungen an der Choreographie vorgenommen, die Struktur ist geblieben.

Einzig die individuellen Aufführungsmomente sind immer neu und transportieren, was sie selbst an Erinnerungen mit einfließen lässt. Das Tänzerische steht hierbei weniger im Vordergrund als die Beziehung Mensch – Hotelraum und die Prozesse, die dabei ablaufen. Hotelzimmer erzählen ihre eigenen Geschichten, von Reisen, Unterwegssein, Orten der kurzen Verweildauer. Diese Momente sind es, die Angels Margarit interessieren. Die Grenzen zwischen Intimität und einem anonymen Ort, der für kurze Zeit ein privates Zuhause wird, voller persönlicher Gegenstände. Ein Raum, den man sich vertraut macht oder auch ertanzt.

In diesen Prozess will sie den Zuschauer einbeziehen, und das gelingt ihr hervorragend mit den Mitteln der Einfachheit und Suggestion. Aus einer alltäglichen Situation schafft sie ein spontanes, amüsantes Fragespiel über Wirklichkeit und Fiktion.