Perfektion und Ereignis

In der europäischen Kulturstadt Avignon findet das größte Theaterfestival der Welt statt. Und Isabelle Huppert darf als Medea in der Inszenierung Jacques Lassalles endlich die Rolle ihres Lebens spielen

von JÜRGEN BERGER

Im Moment geraten junge französische Autoren wie Véronique Olmi und Lionel Spycher ins Blickfeld deutscher Theater. Das ist lobenswert, da eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der Gegenwartsdramatik des Nachbarstaats bislang fehlt. Auf der anderen Seite des Rheins ist das anders. Deutsche Theatertexte geraten selbstverständlich auf französische Bühnen. Nächste Saison etwa zeigt das Pariser Théâtre National de la Colline Schaubühnen-Inszenierungen von Thomas Ostermeier und bringt Marius von Mayenburgs „Feuergesicht“ zur französischen Erstaufführung. Ausgangspunkt von Ostermeiers französischen Karriere war das letztjährige Theaterfestival in Avignon. Man präsentierte die wesentlich von Ostermeier geprägte Baracke des Deutschen Theaters und machte einmal mehr deutlich, dass auf der Welt größtem Theaterfestival Mythen kreiert werden. Heiner Müller etwa wurde in Avignon zur deutschen Denkerstirn stilisiert, und Pina Bausch hat von hier aus die französische Tanzszene so nachhaltig wie sonst niemand beeinflusst.

Dieses Jahr kam die reine de Wuppertal zum dritten Mal in den Süden Frankreichs und eröffnete das Festival mit ihrem in Hongkong entstandenen „Fensterputzer“. Ein Novum: Tanz zur Eröffnung im monumentalen Ehrenhof des Papstpalastes gab es noch nie. Und auch dass der Himmel bedeckt war und die Temperatur unter 30 Grad lag, war einmalig. Für Südfranzosen bedeutet das Winter. Entsprechend applaudierte man sich am Ende des Abends über die Sisyphos-Freuden des menschlichen Seins heiß, obwohl die Tanzware im Reisekörbchen der reine hätte frischer sein können.

Der Innenhof des Papstpalastes mit seinen 2.300 Sitzplätzen ist für französische Theatermenschen Olymp und Waterloo. Wer es hier schafft, schafft es überall. Wer hier scheitert, war zumindest mal da. Isabelle Huppert war noch nie da, obwohl Festivalchef Bernard Faivre d'Arcier sie schon seit einiger Zeit mit Regisseur Jacques Lassalle zusammenbringen wollte. Lassalle ist mit Stephane Braunschweig, der gerade das Straßburger Nationaltheater übernimmt, derzeit der interessanteste französische Regisseur. Vor zwei Jahren verschaffte er Véronique Olmi mit der Uraufführung von „Chaos Debut“ einen bemerkenswerten Avignon-Einstand. Dieses Jahr einigte er sich mit Huppert auf Euripides' „Medea“. Ihr sei intuitiv klar gewesen, dass das die Rolle ihres Lebens sei, ließ la Huppert zuvor wissen. Heute ist klar, dass sie sich auf ihre Intuition verlassen kann.

Vom ersten Moment an, wenn aus der trichterförmig zum Palast von Korinth hin geöffneten Erdhöhle ihre Klage-, Hass- und Schmerzschreie ertönen, ist Isabelle Huppert präsent, wie man es im weiten Ehrenhof noch nie gesehen hat. Dabei bewegt sie sich wie auf einer kleinen Kammerspielbühne und ist eine in sich versunkene Frau, die trotzdem als Kämpferin gegen die erbärmliche Stupidität machistischer Männer antritt. Spielt Korinths Herrscher Kreon sich als Despot auf und will die fremde Zauberin verbannen, auf dass ihr Griechengatte Jason mit seiner eigenen Tochter Nachwuchs zeugen kann, wirkt er neben der fragil-unbeugsamen Medea wie ein Riesenbaby.

Isabelle Huppert spielt zweierlei: Eine Frau, die die Lächerlichkeit dieses Vorstadtcasanovas durchschaut, ihn aber immer noch liebt und die gemeinsamen Söhne wohl nicht töten würde, wäre da noch was zu retten. An ihrer Seite wird der griechische Heros zum Würstchen ohne Senf; Jean-Quentin Châtelain allerdings rettet die Figur vor dem Absturz in die Lächerlichkeit, indem er einen dezent öligen Charme versprüht. Hätte Lassalle nicht ein Operettenbühnebild mit einer lagunenhaften Wasserfläche bauen lassen, wäre die Sache perfekt gewesen.

Perfekt lief es in Avignon für eine Legende des europäischen Theaters: Iouri Lioubimov, im Jahr der russsichen Revolution geboren, Begründer des legendären Moskauer Taganka-Theaters, von 1984 bis zur Perestroika des Landes verwiesen und jetzt mit einem Stück nach Avignon gekommen, das er schon immer inszenieren wollte: Peter Weiss' „Marat/Sade“, aus dem er eine Vaudeville-Show in der Irrenanstalt zu Charenton gemacht hat. Es wird viel gesungen und sogar die Konfrontation von de Sades nihilistischem Individualismus mit Marats brennendem Glauben an die Revolutionierbarkeit sozialer Verhältnisse rezitativ intoniert. Das ist handwerklich bestechend, aber ohne Biss, im Grunde jedoch auch egal, weil das eigentliche Ereignis mitten unter den Zuschauern im Cloître des Célestins sitzt: Iouri Lioubimov, mit 83 Jahren und strahlenden Kinderaugen seine Inszenierung dirigierend.

Und ansonsten? In der ersten Hälfte des Festivals gab es vor allem noch das neue Stück „L'origine rouge“ des hoch gepriesenen und in sich versponnenen Valere Novarina. Letztes Jahr machte Claude Buchvald aus dessen „Imaginärer Operette“ ein wundersam lyrisch-ironisches Spiel; dieses Jahr hat sich der Autor selbst als Inszenator des eigenen Textes versucht und eine Nummernrevue abgeliefert. Ebenso enttäuschend Denis Marleau, der mit seinem kanadischen Théâtre Ubu Normand Chaurettes „Le petit Köchel“ lediglich als szenische Lesung auf die Bühne brachte.

Das Festival, das noch bis zum Ende des Monats läuft, leidet weiter darunter, dass Bernard Faivre d'Arcier aufgrund von Budgetkürzungen kürzer treten muss und seit einigen Jahren zudem einen Osteuropa-Schwerpunkt eingeführt hat. Unter dem Motto „Vom Baltikum bis zum Balkan“ hat er dieses Mal zehn Produktionen eingeladen, die vor allem die Frage aufwerfen, ob die osteuropäische Theaterszene so einen Schwerpunkt zufrieden stellend bestücken kann. Ganz nebenbei ist Avignon dieses Jahr natürlich auch eine der neun Kulturstädte Europas. Wovon man im Juli allerdings eher wenig bemerkt, weil die Stadt in dieser Zeit nämlich schon seit 54 Jahren ganz nebenbei die Theaterhauptstadt der Welt ist.