Kids On Speed

■ Hat hier jemand gesagt, Kampfhunde seien überflüssig? Petits Frères zeigt ihren Nutzen, wäre aber nicht unbedingt nötig gewesen Von Tobias Nagl

Sie hat den Blick eines Killers. Das merken die Pariser Ghetto-Kinder aus der Cité sofort. Und weil jede ihrer nervösen Gesten eigentlich heißt „Hast Du ein Problem damit?!“, hat die dreizehneinhalbjährige Talia nach zwei Sätzen bereits ihren Spitznamen weg: Tyson. So aggro wie die Wortscharmützel, auf die sie sich einlässt, so treffend ist die Straßentaufe. Da bräuchte es Kim, die Pitbullhündin, mit der Talia von zuhause ausgebüchst ist, eigentlich gar nicht. Vergleichsweise nimmt sie sich sogar recht zahm aus. Manchmal macht das bedächtige Viech sogar den Eindruck, als würde es ein Magnum in der Badewanne jeder leckeren Schülerlende vorziehen. Aber in der Welt von Talia und ihren neuen Freunden scheint sowieso niemand wirklich zur Schule zu gehen.

Wie ein Ringrichter hetzt die Kamera in Jacques Doillons Petits Frères denn auch den kindlichen Protagonisten atemlos hinterher, muss verschnaufen, verliert ab und zu den Überblick, wird zwischen ihnen hin- und hergerissen, um dann in dieser ständigen Bewegung so etwas wie eine filmische Wahrheit zu finden, die tatsächlich zwischen den Figuren liegt. Ganz ohne dass eine von ihnen dabei am Ende zu Boden gehen müsste oder von der stinkenden Moral eines mitteilungsbedürftigen Erzählers angezählt würde. Wenn Doillons kleine Strolche dennoch ab und zu schlingern, ins Wanken geraten und mit der Welt hadern, dann hat das andere Gründe, die jenseits der Arena liegen, in der seine Kamera so entfesselt tänzelt wie in den Filmen des jungen, beat-seligen Cassavetes. Um Kinoreferenzen geht es Doillon aber weniger, mehr um Beinarbeit, auch wenn man für das Tempo die Nouvelle Vague, für die psychologische Aufrichtigkeit Rivette oder Rohmer ins Spiel bringen könnte. Andere nennen das einfach dann Realismus, wenn der Kitsch fehlt und das Fragen das Ausbuchstabieren ersetzt.

Tatsächlich aber geht es Doillon um Realität, nicht allein die allzu zwischenmenschliche, sondern jene der sich auflösenden gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Franzosen „friction sociale“ nennen und die, zwischen La Haine und La Vie de Jésus, den Angelpunkt des derzeit vielleicht spannendsten Strangs des jungen französischen Kinos bildet. Dabei ist Jacques Doillon alles andere als jung. Über fünfundzwanzig Filme hat er seit den frühen 70er-Jahren gedreht und sich, zuletzt mit Ponette, einen Ruf verschafft als Mann mit sicherem Händchen für kindliche Themen und Protagonisten. Das ist schwer, sind die doch im Kino meist entweder süß, nymphchenhaft oder neunmalklug, also immer ziemlich widerlich. Bei ihm sind Kinder schlicht Kinder; ihr Alter schützt sie vor der Grausamkeit nicht, und was die Großen hinter verschlossenen Türen treiben, davon haben sie eine genaue Vorstellung.

Nach einem Streit mit ihrem Stiefvater ist die dreizehneinhalbjährige Talia durchgebrannt. Der hat sich, das weiß sie, an ihrer bes-ten Freundin vergangen. In den Banlieues sucht sie Unterschlupf bei einem Freund. Von da an scheint dieses unkonventionelle coming-of-age-Drama unausweichlich auf ein böses Ende zuzusteuern, das es dann doch nicht gibt. Im Gegenteil: Der Sommer in der Vorstadt endet mit einer Hochzeit, wenn auch nur einer von den Kindern gespielten. Der Weg dorthin ist allerdings lang und voller temporeicher Bewährungen. Weil der Freund nicht da ist, übernachtet Talia bei seinem Bruder und lernt dessen Freunde kennen, die in der Hierarchie der Betonstadt zu den „Kleinen“ gehören: Gelegentlich werden sie von den „Großen“ herumkommandiert oder verkloppt; manchmal ist es deshalb besser, sich schon im Vorfeld zu verpissen. Am nächsten Tag fehlt Kim. Das Tier wurde gleich von den Kleinen entführt, die die Schuld auf die Großen schieben. Gemeinerweise bewahrheitet sich das bald. Als die nämlich von der Sache hören, nehmen sie den Hund an sich, um ihn für die allabendlichen Hundekämpfe scharf zu machen. Da geht dann alles Schlag auf Schlag: Eine Pistole wird besorgt und die „Al-Pacino-Handhaltung“ geübt, es kommt zu einem Überfall, Talia muss im Freien übernachten, Mofas und Fahrräder werden gezockt, erste Küsse ausgetauscht.

Bei all dieser Rasanz ist dennoch Zeit für einzelne Gesten und Momente, die diese Logik unterbrechen. Eine der schönsten berichtet allerdings nicht so sehr von Nähe als vom ominösen „Business“, das unter den Bedingungen dieser Misere längst auch in die Kinheit Einzug gehalten hat. Auf einer in die falsche Richtung laufenden Rolltreppe unterhalten sich zwei der Kleinen über ihre Zukunftspläne. „Wenn ich groß bin, werden ich mit Drogen handeln“, weiß der Eine, „aber nicht mit den harten Sachen.“ Der Andere wird Autos klauen, sagt er. Eine Familie will er trotzdem gründen. Damit er jemanden hat, dem er aus dem Knast schreiben kann.

Tobias Nagl

20. – 26.7., 20.30 Uhr + 27., 28.,31.7., 1. + 2.8., jeweils 18 Uhr, 3001