Filmstarts à la carte
: Anarchie in der Provinz

■ Unter musikalischen Gesichtspunkten betrachtet, schien das Jahr 1976 für einen 14-jährigen Jungen nicht viel Aufregendes bereit zu halten. Zu jung, um die wenigen guten 70er-Jahre-Bands wie Roxy Music und Be-Bop Deluxe zu kennen, mußte man sich mit Hitparaden voller Discomusik und Schlagersängern à la Elton John herumschlagen. Noch schlimmer war die „seriöse“ Rockmusik jener Ära: Das bombastische Gedöns von Genesis, Pink Floyd und Konsorten war meilenweit entfernt von allem, was man sich gemeinhin unter Rock `n‘ Roll vorstellt. Doch dann kam jener denkwürdige Tag im Dezember, als ich nichts ahnend mein kleines Radio einschaltete und aus dem Lautsprecher der gewaltigste Radau aller Zeiten erklang: „Anarchy in the U.K.“ von den Sex Pistols. Bislang hatte ich vor allem der Beatmusik der 60er Jahre gelauscht: „Sweets for my sweet, sugar for my honey...“ Nun ja, die Searchers sind auch ganz nett, aber „Anarchy“ - das klang nach Spaß, Aufregung und Rebellion. Auch wenn es in meinem gepflegten Mittelklasseleben dank netter Eltern kaum etwas zu rebellieren gab. Aber man konnte ja zumindest so tun als ob: Anarchy in Bremerhaven. In den folgenden Monaten verfolgte ich mit Begeisterung die vielen Skandale der Pistols: wie ein Zuschauer vor Wut seinen Fernseher zertrümmerte, weil Johnny Rotten und Co. in einer Talkshow obszön geflucht hatten, wie die Band immer wieder ihre Plattenverträge verlor, und wie ihr Song „God Save the Queen“ im Silber- Thronjubiläums-Jahr der Königin von der BBC verboten wurde und trotzdem auf Platz 1 der Hitparade kam. Ungefähr ein Jahr nach meinem großen Aha-Erlebnis lösten sich die Pistols auf. Zu diesem Zeitpunkt war Bassist Glen Matlock, der die Band musikalisch zusammengehalten hatte, längst durch Sid Vicious ersetzt worden, dessen Talente eher im autodestruktiven Bereich lagen - die Sex Pistols scheiterten wohl vor allem an diversen Ego-Problemen. 1980 schuf der britische Regisseur Julien Temple mit „The Great Rock `n‘ Roll Swindle“ eine satirische Collage, die die Pistols als Marionetten ihres Managers Malcolm McLaren darstellte und den Punkrock als einen cleveren Medien-Hype desavouierte, mit dem sich trefflich Geld verdienen ließ. Diese Bild rückt Temple nun zwanzig Jahre später in seinem jüngsten Film „The Filth and the Fury“ zurecht: In historischen und aktuellen Interviews erzählen die originalen Bandmitglieder die Geschichte der Sex Pistols noch einmal. In den Berichten von Johnny Rotten, Glen Matlock, Steve Jones und Paul Cook (und dank der Ausschnitte aus Konzerten und Fernsehauftritten) lebt die Ära der mittleren 70er Jahre noch einmal auf: eine Zeit, in der ein paar junge Musiker mit lautem Rock `n‘ Roll und einigen - gewollten und ungewollten - Provokationen eine der radikalsten Umwälzungen in der Geschichte der Rockmusik auslösten (ohne die die heutige Independent- Szene kaum denkbar wäre) und das biedere britische Königreich für einen kleinen Moment in seinen Grundfesten erschütterten. Und die auch in braven Teenagern aus der deutschen Provinz den Wunsch nach ein klein wenig Anarchie weckten.

„The Filth and the Fury“ 22.7. im Freiluftkino Kreuzberg

■ Keines seiner ganz großen Meisterwerke, aber immerhin demonstriert Alfred Hitchcock in „Bei Anruf Mord“ (1954) wie man die Zuschauer auch in einem dialoglastigen Boulevardstück bei der Stange halten kann: mit einem exakt ausgeklügelten perfiden Plan, mit dem ein abgehalfterter Tenninschampion seine Frau beiseite schaffen will, mit einer ausgeklügelten Farbdramaturgie (der Film wird immer farbloser und dunkler) und - in der Originalversion - mit 3-D-Effekten, von denen vor allem jener Momnent hervorsticht, als Grace Kelly schon halb erwürgt nach der Schere tastet, um sich gegen den Mörder zu wehren.

„Bei Anruf Mord“ 23.7. im Naturtheater Friedrichshagen

Lars Penning