Die Erschaffung der Sünde

■ Dreistündiges Horrorkabinett mit magengruben-untauglicher Musikeinlage: Raffaello Sanzio mit der Performance „Genesi“ Von Annette Stiekele

Eine düstere Szenerie. Nur ein durchsichtiger Vorhang trennt das Publikum von der Bühne. Drei Figuren drängen sich an die rückwärtige Wand, ganz in Schwarz, unbewegt, die Gesichter angsterfüllt. Aus dem Off ertönt ein leises Röcheln. Das Schreckenslabor nimmt seine Arbeit auf. Forschungsobjekt: Die Erschaffung der Welt – und der Sünde.

Der dirigierende Meister im Hintergrund des mysteriösen Geschehens ist Romeo Castellucci, Begründer der radikalen italienischen Theatercompagnie Socìetas Raffaello Sanzio, die it ihrer neuen Produktion Genesi. From the museum of sleep für einen schockierenden Höhepunkt beim Internationalen Sommertheater Festival auf Kampnagel sorgte.

Das über dreistündige Horrorkabinett, das sich dem Zuschauer darbietet, scheint direkt aus der Hölle zu stammen. „Lucifer in the laboratory of M.me Curie“ heißt dann auch die erste Szene des ersten Aktes „At the Beginning“. Ein farbiger Mann, der mehr einer Skulptur als einem Menschen ähnelt, kommt auf die Bühne, dann tritt ein klapperdürrer Riesenmensch mit überdimensionalen Händen und ausgezehrtem Körper auf. Adam.

Plötzlich bricht er in ein unerträgliches Geheul aus. Begleitet von metallisch scheppernden Hintergrundklängen der Musik Scott Gibsons, die auf die Dauer arg an den Nerven zerren. Immer noch besser als die anfänglichen Niedrigfrequenztöne, die bei ungeübten Zuschauern direkt in der Magengrube landen. Dazu spielt Castellucci mit dämonisch flackernden Lichteffekten, leuchtet kurz angerissene Szenen aus. Ein eingewickelter Mann bläst Rauchringe in die Luft, ein Schäferhund uriniert aus einem Glaskasten über einen Schlauch auf den Boden, „Eva“ tanzt als brustamputierte ältere Frau durch den Raum.

Die starken Bilder sind das Markenzeichen der Socìetas Raffaello Sanzio, sie kommt so gut wie ohne Text aus und erzählt stattdessen einen gigantischen Albtraum voller gewaltiger surrealer Bilder. Schier unerschöpflich scheint der Ideenfundus Castelluccis, der in guter Tradition von Antonin Artauds „Theater der Grausamkeit“ zu einer verrätselten, den Zuschauer aber auf eigentümliche Weise fesselnden Bildersprache findet.

Viele der Bilder erklären sich in dieser Inszenierung von selbst. In The Core verrenkt sich ein Schlangenmensch in einem Terrarium, dass einem wirklich der Appetit vergeht. Dazu wird nebenan krachend ein Stierschädel zermalmt. Ein Roboter klatscht dazu lautstark Beifall. Es riecht vermodert und naturhaft erdig.

Im zweiten Akt wandelt sich die Genesis zur Auschwitz-Erzählung. Ganz in Weiß treten alle sechs Kinder Castelluccis auf. Doch die scheinbare Harmlosigkeit und Niedlichkeit der Szene täuscht. Eines der Kinder wird seinen Bruder mit dem Messer hinrichten, bevor sie alle unter einer „Dusche“ enden. Im dritten Akt dann tötet Kain Abel. Die Sünde ist von nun an unübersehbar in der Welt, denn nach Auschwitz kann es kein Paradies mehr auf Erden geben.

Die Socìetas Raffaello Sanzio gilt als radikalste der Avantgarde-Theatercompagnien Italiens. In den 80-er Jahren begründete sie dort das „nuevo teatro“. Regisseur Romeo Castellucci destruiert mit Vorliebe klassische Stoffe, Märchen, Historien oder Dramen in seinem „Theater der reinen Wirkung“. Mit Genesi hat er ein schockierendes Werk über die biblische Schöpfungsgeschichte geschaffen. Erst lässt er sie in seinem Forschungslabor auf kleiner Flamme köcheln, bevor sie in eine gigantische Feuersbrunst ausbricht.

Erst vom Extrem Auschwitz her lässt sich nach Meinung Castelluccis die Welt heute überhaupt begreifen. Zu diesem Zweck sucht und entlarvt er die Momente der Brutalität in der Genesis, die archaische Grausamkeit, mit der sich die Ereignisse vollziehen. Das ist im Ergebnis sehr beklemmendes Theater, das dem Zuschauer viel abverlangt, vor allem aber die Bereitschaft, sich mit all seinen Sinnen auf eine eigenwillige Sprache einzulassen, ohne gleich den Verstand zu verlieren. Kalt lässt es niemanden. Mehr kann Theater nicht sein.