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wir lassen lesenLiterarische Würdigung eines Daseins als Schalke-Fan

Zechensiedlung und San Siro

Wie fühlt es sich an, wenn man sich „gleichzeitig mit Cornichons und mit Buttercremetorte bewerfen möchte“? Was mag das für einer sein, der solche Sätze schreibt? Allemal ist es einer, dessen Leben ein Rausch ist, ein Wechselbad der Gefühle, ein Fußballverrückter und zugleich nicht blind und taub für die Dinge im richtigen Leben. Einer wie Bodo Berg eben.

Der ist Mitte vierzig, in Gelsenkirchen aufgewachsen und Schalker auf Lebenszeit, Einzelhandelskaufmann, Speditionsarbeiter, Dachdecker, Tischler, Sprecher der Fan-Initiative „Schalker gegen Rassismus e.V.“. Und jetzt auch Buchautor. „Mehr als ein Spiel“ nennt er seine autobiografischen Aufzeichnungen, der sportlichen Schmach auf der Spur und den blau-weißen Triumphen, den persönlichen Niederlagen und der Hoffnung auf ein Ende der bleiernen Zeiten. „Erst wenn man die Täler durchschritten hat, weiß man die Höhen zu schätzen“, philosophiert Berg. Und wir hängen an seinen Lippen.

Die Kinder- und Jugendjahre verbringt er in der Zechensiedlung tief im Westen, mit dem „Silikosekeuchen und Husten der alten Kumpels“, als es noch Tante-Emma-Läden gab und Nachbarschaftshilfe, Ohrlaschen und wahre Freundschaft, als Fußball noch auf der Straße gespielt wurde, auf Wiesen und in Toreinfahrten. Papa nimmt ihn erstmals mit „auf Schalke“, „ab jetzt gab es kein Halten“. Wen wundert’s, dass da manche Dinge anders bewertet werden als anderswo: „Der erste Kuss war bei weitem nicht so aufregend wie ein Tor von Lütkebohmert.“

Gelassen und treffend spricht Bodo Berg all die Wahrheiten aus, die uns lang schon quälen: dass er stinksauer ist auf „Transfers, die man nicht mehr nachvollziehen kann, und auf die spielerische Kultur auf dem Rasen, in der sich niemand mehr wiederfindet“. Da schafft Berg gar den versöhnlichen Schulterschluss mit den Fans der Schwarz-Gelben „aus der Nähe von Lüdenscheid“, die ja auch vom Mammon gepeinigt werden.

Ein Buch, in dem gelitten wird, gefeiert, gegrölt und gesoffen. Wie bei Bukowski. Und dann: „Asylanten raus“-Rufe in den Stadien, Urwaldgeräusche und Bananenwerfer, zum Hitlergruß mutierte Hände. Zum Davonlaufen. Doch nicht für Bodo Berg. Ohne Anti-Rassismus-Transparent geht’s fortan nicht mehr zum Spiel. Das Schalker Unser entsteht, eine antirassistische Fanzeitung, „ein paar Seiten im Kartoffeldruckverfahren“. In der Gelsenkirchener Innenstadt werden 15.000 Flugblätter verteilt, gemeinsam mit Yves Eigenrauch (der für Bergs Buch die Fotos beigesteuert hat, unscharf und blaustichig, Kunst eben), Andy Müller und – halt dich fest – Jens Lehmann.

Ganz nebenbei die großen Erfolge der letzten Jahre: Schalke aus eigener Kraft im Uefa-Cup, nach 19 Jahren. Auswärtsfahrten: Kerkrade, Trabzon, Brügge, Valencia, der grandiose Titelgewinn gegen Inter Mailand im Meazza-Stadion von San Siro. Aber so richtig spannend ist die Frage nicht, wer nach welchem Spiel in welchen Blumenkübel gepinkelt hat. Hier schwächelt Bodo Berg ein wenig, literarisch gesehen. Allerdings nur, um gleich noch einmal Fahrt aufzunehmen und zum großen Finale auszuholen.

Schalke hat soeben Peralta vom FC Bogotá verpflichtet. Für schlappe 105 Millionen. Wir schreiben das Jahr 2023. Das Hyper-Stadion ist wegen seiner maroden Bausubstanz schon abrissreif, die Stehplätze sind dem Drive-In gewichen. Fußball live durch die Windschutzscheibe. Der Börsencrash des Jahres 2006 und das nachfolgende Konkursverfahren haben den BVB von der Fußballlandkarte verschwinden lassen, Bayern United spielt in der Weltliga, doch der Fußball ist nicht besser geworden.

Bei der Beerdigung von Kaiser Franz, zur besten Sendezeit übertragen, gibt’s eine Coca-Cola-Werbeeinblendung, genau in dem Moment, als sie den Sarg in die Tiefe gleiten lassen. Katsche Schwarzenbeck schwitzt als Sargträger („Und wieder hat keiner auf ihn geachtet“). Nur einmal vergisst Berg, dass Utopien nur dann glaubhaft sind, wenn sie in der Realität wurzeln: Lothar Matthäus, zum Uefa-Präsidenten avanciert, hält eine zweieinhalbstündige Rede in englischer Sprache.

Sciencefiction at its best. Nur dass Berg beim Schreiben noch nicht wusste, dass die Wirklichkeit die Satire wieder einmal lässig überholen würde. Dank Andy Möller. REINER LEINEN

Bodo Berg: „Mehr als ein Spiel – Aus dem Leben eines Fußballfans“. Verlag die Werkstatt, 157 Seiten, 28 DM

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