Die Kehrseite der Utopie

Gotteserscheinung als Horrortrip? Der letzte Band der Science-Fiction-Geschichten von Philip K. Dick, dem Autor hinter „Blade Runner“ und „Total Recall“, ist erschienen. Und ein Dick-Spezial-Rabe auch

von FRANK SCHÄFER

Sechs Jahre vor seinem Tod 1982 bekannte Philip K. Dick in einem Interview mit der Zeitschrift Science Fiction Review seine Faszination für den Brahma-Mythos. Damit verriet er fast so etwas wie eine erzählerische Ursituation, aus der sich tatsächlich viele seiner Geschichten ableiten lassen. Diesem Mythos zufolge ist unsere Wirklichkeit nichts weiter als ein Traum der indischen Gottheit Brahma. In dem Moment, in dem sie erwacht, werden wir aufhören zu sein.

Es gibt Lebenssituationen, in denen so etwas faszinieren, genauso gut aber auch verstören kann. Und Faszination und Verstörung, damit sind schon wesentliche Funktionsmerkmale Dickscher Erzählkunst benannt. Das Wort Kunst ist übrigens mit Bedacht gewählt, denn obwohl er mit 33 Romanen und über 100 Kurzgeschichten in knapp 30 Produktionsjahren ein verdächtig großes Oeuvre hinterlassen hat, und dies vor allem unter dem Trivialgenre Science Fiction zu subsumieren ist, haben viele seiner Werke durchaus literarische Qualitäten. „Ubik“ etwa, einer seiner bekanntesten und am häufigsten interpretierten Romane. Da er am erwähnten Mythos geradezu entlanggeschrieben zu sein scheint, eignet er sich gut zum Einstieg in das ausufernde Gesamtwerk.

Die Handlung geht so: Der Agent Joe Chip und seine Kollegen, angestellt bei einer Organisation zur Kontrolle und Bekämpfung parapsychologisch Begabter, fliegen in einer heiklen Mission zum Mond. Dort wird ein Attentat auf sie verübt, das ihren Chef Glen Runciter das Leben kostet. Nun ist man in dieser 1969 erdachten Zukunft bereits in der Lage, das Leben künstlich zu verlängern, indem man die Menschen in ein „Tiefkühlgrab“ einlagert, das zumindest für gewisse Zeit ihre Hirntätigkeit aufrechterhält. Runciter wird in ein solches Moratorium gebracht, von wo aus er weiterhin mit den Lebenden kommunizieren kann. Chip und die anderen Überlebenden des Attentats bekommen es nun mit merkwürdigen Realitätskrümmungen zu tun.

Die Zeit scheint rückwärts zu laufen, die Gegenwart regrediert ins Jahr 1939, und schließlich werden einige Mitglieder der Gruppe förmlich dehydriert – sie zerfallen zu Staub. Chip versucht dem Rätsel auf die Spur zu kommen, sieht sich mit merkwürdigen Botschaften seines eingefrorenen Chefs konfrontiert und muss dann das Schreckliche feststellen: Auch er und die anderen sind bei dem Attentat gestorben und befinden sich jetzt in der „Kaltpackung“, haben sich ihr Weiterleben also bloß erträumt. Jetzt stellen sich natürlich existenzielle Fragen: Ist Runciter am Leben geblieben? Ist er ebenfalls eingefroren – und kommuniziert mit ihnen im Halbleben? Oder existieren Chip und seine Freunde am Ende nur in dessen Vorstellung?

Die Struktur ist klar (und taucht in vielen anderen Texten wieder auf): Philip K. Dick fingiert eine Realität, vergegenwärtigt und beglaubigt sie mit allen ihm zu Gebote stehenden erzählerischen Mitteln, fingiert dann aber noch eine weitere, genauso authentische Wirklichkeit als Alternative, sodass der Leser nicht entscheiden kann, welche er nun glauben, mithin als echte Realität annehmen soll. Einen zusätzlichen Dreh bekommt die Geschichte hier, gleichsam dem Mythos analog, indem Dick überdies nahe legt, dass eine der beiden Realitäten nur als Imagination eines Protagonisten aus der anderen hervorgehe. Aber was ist hier nur vorgestellte und was wirklich erlebte Realität?

Fragen, deren Beantwortung sich der Autor aus gutem Grund entzieht, denn diese epistemologische Leerstelle ist ja das Thema. Sein Lebensthema. Mit Philip K. Dick hält die ästhetische Moderne auch im Science-Fiction-Genre Einzug. Er diskutiert im Modus des Zukunftsromans jene philosophischen Probleme, um die sich auch schon die Schriftsteller der klassischen Moderne bemühten: den Solipsismus, die Diskrepanz von subjektiver und objektiver Realität, die Defizite der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt und die unter solchen erkenntnistheoretischen Bedingungen sich zwangsläufig auflösende Identität des Einzelnen. Überdies beschäftigten ihn von Anfang an – und seit den Sechzigerjahren zunehmend – metaphysische Fragen. Offensichtlich erlebte er seinerzeit im Drogenrausch, auch dies ein immer wiederkehrender Topos des Werks, eine Art Epiphanie, und anschließend war er sich wohl nicht recht im Klaren darüber, ob es sich hier um eine LSD-Vision handelte oder eben doch um eine veritable Erscheinung Gottes. Wie andere Acid-Heads in den Sixties auch geht er diesen religiösen Erfahrungen nach.

„Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ ist seine eindringlichste Auseinandersetzung mit dem Thema. Der Roman liefert nicht nur eine authentische Darstellung psychedelischer Bewusstseinszustände; man soll ihn auch als hinterhältige religiöse Allegorie lesen. Palmer Eldritch ist Gott. Ein böser Gott, „der aus dem Prox-System über uns hereinbricht (...) und uns das bietet, wofür wir seit über zweitausend Jahren beten“. Das ewige Leben im Chew-Z-Universum. Freilich nicht ganz bedingungslos: „Eldritch wird in unser Leben eindringen und uns auf Schritt und Tritt verfolgen.“ Es hat schließlich nie jemand gesagt, dass religiöse Erfahrungen nicht auch einem Horrortrip gleichkommen können!

Nun, man wird Dick nach all dem kaum vorwerfen dürfen, er habe mit seiner Prosa „handlungsverbrämte Propaganda für reine Wissenschaft, unterhaltende Reklame für den absolut gesetzten technischen Fortschritt“ geliefert, wie dies Michael Pehlke und Norbert Lingfeld in ihrer „ideologiekritischen“ Studie „Roboter und Gartenlaube“ an der klassischen Science-Fiction-Literatur monieren. Die futuristische Staffage und das Setting interessieren ihn nämlich gar nicht so sehr; hier ist er oft schlampig, willkürlich, nicht so um logische Kohärenz bemüht. Seine Zukunftswelten geraten eher plan und großflächig, bisweilen holzschnittartig reduziert, nicht selten mit satirischem Unterton. Mitunter erinnern sie auch schon mal an einen schlechten Comic oder Werbespot. Skrupulös, detailgenau und liebevoll, wenn es der allemal drohende Abgabetermin des Manuskripts zuließ, hat Dick seine Protagonisten gezeichnet, ihre sozialen und politischen Interaktionen, ihre psychische Verfassung oder Fassungslosigkeit. Sie sind keine strahlenden Helden, sondern fast immer Allerweltsmenschen – Bürokraten, Techniker, Handwerker, am häufigsten begegnet man etwa dem „repair man“ –, und sie sind Melancholiker, die an den zukünftigen Verhältnissen leiden und denen der technologische Fortschritt das Leben nur vordergründig einfacher gemacht hat.

Oft nicht einmal das. Deshalb scheint mir der eher profane Harrison Ford in Ridley Scotts Verfilmung „Blade Runner“ (nach der sehr viel komplexeren Buchvorlage „Do Androids Dream Of Electric Sheep?“) eine durchaus bessere Wahl als Darsteller eines typischen Dick-Protagonisten gewesen zu sein als der zum Superheld aufgepumpte Arnold Schwarzenegger in „Total Recall“ (der auf der furiosen Erzählung „We Can Remember It For You Wholesale“ beruht). Wie man hört, verfilmt Steven Spielberg gerade eine weitere Dick-Story, leider mit Tom Cruise in der Hauptrolle: und zwar „The Minority Report“ (auf deutsch erschienen in „Autofab“, dem 7. Band der sehr schönen zehnbändigen Ausgabe sämtlicher SF-Geschichten Dicks bei Haffmanns, die im Herbst endlich geschlossen vorliegt); eine Geschichte, in der die Menschen bereits bestraft werden für Verbrechen, die sie erst noch begehen wollen.

Eben! Dick ist kein Apologet des Fortschritts, er berichtet vielmehr von der Kehrseite utopischer Hoffnung und grundiert seine Geschichten mit einem tiefen Pessimismus hinsichtlich der Lösbarkeit gesellschaftlicher Probleme durch die Weiterentwicklung der Technologie. Und er lenkt den Blick auf die Gefahren, die sie birgt.

Entsprechend häufig installiert er in einem technologisch hoch entwickelten Zukunftsszenario ein restriktives Law-and-Order-Regime, das dann freilich auch immer entfernte Ähnlichkeit mit den USA seiner Zeit hat. Am schärfsten und eindeutigsten formuliert er solche Kritik am undemokratischen Überwachungsstaat in „Flow My Tears, The Policeman Said“ (dt. „Eine andere Welt“), Dicks belletristischer Rache an den kalifornischen Behörden. Die nämlich hatten den Renegaten und in einschlägigen Drogenkreisen verkehrenden Schriftsteller observieren lassen und waren sogar bei ihm eingebrochen, augenscheinlich, um allzu subversive Schriften sicherzustellen. Dick erstattete Anzeige, aber die lokale Polizei verschleppte die Ermittlungsarbeiten und redete sich mit einem Anschlag einer religiösen Gruppe heraus.

Als er sich darüber an höherer Stelle beschwerte, so erzählte er es jedenfalls später seinem Freund Paul Williams, habe man ihm offen gedroht: „Wir wollen keinen Kreuzzug hier in Marin County. Ziehen Sie woanders hin, oder es trifft Sie eines Nachts eine Kugel in den Rücken. Oder Schlimmeres. Ich fragte, was Schlimmeres sei. Der Polizist antwortete: Das werden Sie bestimmt nicht wissen wollen.“ Dick zog daraufhin nach Kanada.

Philip K. Dick: „Der Fall Rautavaara“. Sämtliche SF-Geschichten, Bd. 10. 311 Seiten, 36 DM„Das Vater-Ding“. Sämtliche SF-Geschichten, Bd. 5., 288 Seiten, 36 DMAußerdem ist erschienen: „Der phantastische Rabe“. Mit großem Philip-K-Dick-Special-Sonderteil. Hg. v. Heiko Arntz und Gerd Haffmanns. 224 Seiten, 16 DMAlle Haffmanns Verlag, Zürich 2000