Der Tribut des Eismeers

Die Industrie hat den bretonischen Islandfischern die Fischgründe geraubt. Nur auf dem Friedhof von Ploubazlanec sind die Spuren der Fischer von Paimpol noch nicht verwischt

Klein ist die Hafenstadt an der Pforte zum bretonisch sprechenden Teil im Norden Frankreichs: Paimpol. Alte Reederhäuser aus grauem Granit säumen den ehemaligen Fischereihafen, heute Heimat von Segel- und Motorjachten. Durch die engen, kopfsteingepflasterten Gassen pfeift eine frische Meeresbrise, und in den niedrigen Gasthäusern mit schwarzgerußten Kaminen ahnt man, dass die alten, steinernen Mauern so manche derbe Fröhlichkeit erlebt haben.

Auf dem Weg von Paimpol nach Arcouest, dem Landungssteg der Touristenschiffe zur mediterranen Ile de Bréhat, kommt man nach etwa zwei Kilometern durch den unscheinbaren Weiler Ploubazlanec, der in wenigen Sekunden durchfahren ist. Und doch lohnt ein Halt und der Besuch des Dorffriedhofs. Seine Gräber sind so grau wie das Wasser des Ärmelkanals am weiten Horizont. Graue Moosflechten mit schwefelgelben Flecken bewachsen die verwitterten Grabsteine und Heiligenbilder, die versteckt in Mauernischen stehen. Bei Flut hört man das Rauschen der Wellen, wenn sie gegen die felsige Küste branden oder sich an den Klippen brechen.

Den hier bestatteten Fischern hatte die See durch glückliche Fügung immerhin noch ein Grab in der heimatlichen Erde gegönnt. Die „Mur des disparus“, die Mauer der Verschwundenen am Rande des Friedhofs, ist den Schiffbrüchigen geweiht, die das Meer an der Goélo-Küste nicht mehr hergab. Schlichte Steinplatten bedecken die lange Wand, aus deren Steinfugen Moos und Löffelkraut sprießen.

Die Gedenktafeln beginnen alle mit „Zur Erinnerung an die in Island verschollenen Seefahrer“, und dann folgen in langer Reihe die Namen der Schiffe und die Zahl der Männer von Paimpol, die zwischen 1852 und 1935 in den Tiefen des Eismeers verschwunden sind – fast jedes Jahr ein Katastrophenjahr. 120 Kabeljauschiffe – „Goéletten“ genannt – verschwanden in diesen sinistren Jahren und mit ihnen mehr als 2.000 Männer.

Zahlreiche ausgeblichene Holztafeln und versiegelte Fotografien haben die hinterbliebenen Frauen ihren ertrunkenen Männern, Vätern, Söhnen, Brüdern oder Verlobten anbringen lassen: „Zum Gedenken an Vincent Gaultier, verschollen im Meer von Island an Bord der Sainte Anne 1895 – Er ruhe in Frieden!“ Daneben erinnert eine vergilbte Aufnahme an die beraubten Mütter, Witwen und Bräute. In Trauerkutten gehüllt, versammelten sie sich allwöchentlich vor dieser Klagemauer, um nach bretonischer Tradition den Tod ihrer Männer zu beklagen und kniend einen Rosenkranz zu beten.

Islands Fischgründe zählten zu den reichsten der Welt, bis sie ab 1945 von industriell betriebenen Trawlern aller europäischen Nationen rücksichtslos überfischt wurden. Die Männer in und um Paimpol übten die Kabeljaufischerei vor den Küsten Neufundlands, Grönlands und Islands seit dem 15. Jahrhundert aus. Es heißt, dass einer von ihnen – Coatelen von der Ile de Bréhat – Christoph Kolumbus die Seeroute nach Amerika wies. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte der mechanisierte und akkordmäßig betriebene Kabeljaufang eine Blütezeit. Er war ein lukratives Geschäft für die Schiffseigner und bescherte den Menschen in der landwirtschaftlich geprägten Region zwischen Armor und Argoat einen bescheidenen Wohlstand.

Jedes Jahr Ende Februar, Anfang März, sobald es die Witterung zuließ, brachen ganze Flotten von Goéletten zum Fischen auf. Es war ein Härtetest für die Männer, so zeitig im Jahr mehr als 1.000 Kilometer nordwestlich in Gegenden zu segeln, wo es kalt und düster und das Meer tückisch ist. Vor den Küsten Islands angekommen, zerstreute sich die Flotte der Fischer in der öden Wasserwüste, in der die Winter keine Tage und die Sommer keine Nächte haben. Kaum einer der Männer verbrachte je einen Sommer seines Lebens in der bretonischen Heimat. Mehr als sieben Monate im Jahr gab es in der ganzen Gegend um Paimpol weder Ehemänner noch brauchbare Liebhaber. Mit den ersten Herbstnebeln kehrten die Schiffe der Islandfischer zumeist mit reichem Fang zurück – bis auf die, die das fremde Meer verschluckt hatte. Die geschundenen Heimkehrer fanden in der Regel Neugeborene vor, und es war gut, dass die Islandfischer so kinderreich waren, denn das Eismeer forderte seinen Tribut.

Island liegt im Einflussbereich zweier unterschiedlich temperierter Meeresströmungen und Luftmassen. Süd- und Westküste werden von einem Nebenarm des Golfstroms umspült, während Nord- und Ostküste dem Grönlandstrom unterliegen. Hier haben die gefürchteten „Islandtiefs“ mit ihren heftigen Regen und Stürmen ihren Ursprung. Wo gerade noch lautlose Stille herrscht, kann in wenigen Stunden ein Aufbäumen der Elemente blinde Zerstörung bringen. Das ruhige Wasser kräuselt sich ohne Vorwarnung plötzlich in kleinen Wellen. Sie laufen einander nach, tun sich in Gruppen zusammen, eine folgt der anderen in bedrohlicher Schnelligkeit. Sie bäumen sich in langen Reihen auf, türmen sich übereinander wie riesige Gebirgszüge. Der Wind bläst immer heftiger und wächst sich zum Orkan aus. Am Himmel jagt er die Regenwolken, auf der See sorgt er für Aufruhr. Solange eine Goélette noch Zeit zum Fliehen hatte, suchte sie in den westlichen Fjorden Schutz oder umfuhr die Südspitze Islands. Wer den Wetterumschwung zu spät bemerkte, den bestrafte die wütende Natur.

Die unvermeidlichen Begleiter des zweiten Teils der Fangzeit waren die Augustnebel, die aber gleichzeitig ankündigten, dass der entbehrungsreiche Aufenthalt im hohen Norden seinem Ende zuging. In wenigen Minuten war es ganz dick und dicht um das Schiff, und man konnte nichts mehr unterscheiden als eine bleiche Feuchtigkeit, in der das Licht verschwand und die Formen des Schiffes sich verloren. Man konnte kaum sagen, ob es Abend oder Morgen war. „Das Meer war grau“, schrieb 1886 der schriftstellernde Marineoffizier Julien Viaud unter dem Pseudonym Pierre Loti in seinem Erfolgsroman „Les Pecheurs d’Islande“, „ein Grau, das sich im Hinschauen aufzulösen schien, und in dieser geheimnisvollen Ruhe verbarg sich das Meer unter Färbungen, denen der Mensch keinen Namen zu geben vermag.“ Zehn Tage und länger konnten diese psychisch belastenden Nebel ununterbrochen andauern. Von Zeit zu Zeit stieß einer der Männer ins Nebelhorn, dessen Ton dem Brüllen eines wilden Tiers glich.

Zwei Schichten mit je sechs Mann fischten zeitversetzt sechs Stunden ohne Unterbrechung, während die Freischicht in nur drei Stunden Schlaf neue Kraft zu schöpfen suchte. Die Arbeitszeiten konnten sich aber auf 20, 24 oder gar 48 Stunden ausdehnen, sobald eine Goélette den geheimnisvollen Wanderungen der Fische auf die Spur gekommen war und sich inmitten einer „Bank“ befand. Eine „Bank“ zeigte sich, wenn das ruhige, kalte Wasser zu vibrieren begann. Manchmal änderte ein einziger Kabeljau aus unerfindlichen Gründen mit einem Schlag seines Schwanzes die Richtung, wobei der silberglänzende Bauch wie ein Blitzfunke sichtbar wurde. Derselbe Schwanzschlag und dieselbe Umdrehung gingen augenblicklich durch den ganzen Zug und nötigten die Goélette zum raschen Manöver. Die Schwärme zogen oft tagelang vorüber und schienen kein Ende zu nehmen. Eine eingespielte Mannschaft konnte in 30 Stunden über 1.000 starke Kabeljaus fangen, der einzelne bis zu 90 Kilogramm schwer und bis zu 1,80 Meter lang.

An Deck standen die Kameraden knöchelhoch im schwarzen Blut der toten Fische. Blutig waren auch Hände und Arme, die in den Eingeweiden wühlten. Ein scharfer Fischgeruch begleitete die schwere körperliche Arbeit, und mit den feuchten Kleidern klebte die Kälte auf der Haut. Es passierte selbst alten und erfahrenen Fischern, dass sie manchen Tags weinten angesichts der Knochenarbeit, die sie erwartete. Ausgezehrt fielen sie nach ihrer Schicht wieder in die Kojen, ohne sich auszuziehen oder die Kleider zu wechseln. Nach und nach verloren die Männer jedes Gefühl für Sauberkeit, ja, sie sahen mit der Zeit nicht einmal mehr den dicken, verkrusteten Schmutz, wenn sie todmüde auf ihr Lager sanken und im Alkohol Wärme, Schlaf und Vergessen suchten.

Alkohol war der unverzichtbare Begleiter. Gegen Wunden, die nicht heilten, gegen Höllenschmerzen, die nicht nachließen. Gegen Asthma und Rheuma, unter denen irgendwann jeder von ihnen litt. Viele Fischer erkrankten an Skorbut, bedingt durch Vitaminmangel und einseitige Ernährung. Das enge, ungesunde Zusammenleben begünstigte Tuberkulose, und fauliges Wasser infizierte die Männer reihenweise mit Typhus. Der Gedanke an das Geld war das Einzige, was die Männer bei ihrer Arbeit durchhalten ließ. Der Verdienst richtete sich nach der Fangmenge und war nicht schlecht. Auch darauf wurde getrunken.

Die Reeder ließen vor der Ausfahrt hektoliterweise Billigfusel laden. Sie argumentierten, ohne ausreichend Alkohol an Bord würden sie weder Fischer finden noch Kapitäne. Der Kapitän arbeitete nicht für die Mannschaft, sondern für den Reeder. Solange seine Leute einigermaßen funktionstüchtig blieben, scherte ihn das Alkoholproblem nur am Rande. Das letzte und schwächste Glied der Kette, der Islandfischer, redete sich heraus, dass der Alkohol für ihn unentbehrlich sei, weil er seine körperlichen Kräfte stärke und das beste Mittel gegen Kälte und Übermüdung sei. In der ungeheuren Einsamkeit unter dem fahlen, immer währenden Licht der Mitternachtssonne, 1.000 Kilometer entfernt von seiner bretonischen Heimat.

Dort grüßten sich die Frauen, wenn eine Goélette überfällig war, auf ihre eigene Art: „Joa d’an Anaon“ – „Freude den Dahingeschiedenen“. Die schicksalergebene Antwort lautete: „Ha war eniou ho ré“ – „Und auch den Seelen der Deinigen“.

MONIKA SCHMITTNER