Nicht mehr und noch nicht

taz-Serie „Zwischenzeiten“: Vor zehn Jahren war die D-Mark in Ostberlin eingeführt, das Grundgesetz noch nicht. Für viele Ostler ging der Aufbruch zu Ende, Westberliner suchten ihn in der Noch-DDR

von UWE RADA

Es war ein typischer Vorabend. Die Stimmung am Kollwitzplatz war ausgelassen, beinahe aufgedreht. Statt einmal mehr Abschied zu feiern, diesmal sogar endgültig, probten die Teilnehmer am „Tag der deutschen Gemeinheit“ den Sprung in die Zukunft. Eine „autonome Republik Utopia“ sollte hier, im Herzen des Ostberliner Stadtbezirks Prenzlauer Berg gegründet werden, um 23.53 Uhr, sieben Minuten vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Ein letztes Mal sollten die Augen feucht werden bei Rio Reisers „Schritt für Schritt ins Paradies“.

Der Schritt, der am nächsten Tag, dem 3. Oktober 1990, bevorstand, war die Vereinigung beider deutscher Staaten. Vorausgegangen war die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 mit dem Sieg der Kohl’schen „Allianz für Deutschland“ und die Währungsunion am 1. Juli 1990. War mit dem 18. März Utopia für die einen, die im Osten, fast schon zu Ende gegangen, begann mit der Währungsunion und dem Wegfall aller Grenzkontrollen zwischen West- und Ostberlin für viele Westberliner Linke der kurze Sommer der Anarchie. „Zwischenzeiten“ waren diese Monate also gleich zweimal. Als Zustand des Nicht-Mehr-DDR und Noch-Nicht-BRD und als zeitlich verschobener Ablauf des Zyklus von Hoffnung und Enttäuschung, die den utopischen Zeiten zu eigen ist.

Einer der gelebten Orte dieser Zwischenzeit war der Ostberliner Stadtbezirk Friedrichshain. In den grauen Straßenschluchten des Arbeiterbezirks standen nicht nur viele Wohnungen und sogar ganze Häuser leer. Auch durch seine Nähe zu Kreuzberg war Friedrichshain, vom Westberliner Szenebezirk nur durch die Oberbaumbrücke getrennt, ein Einfallstor für die Westberliner, die im Osten das suchten, woran sie im Westen schon nicht mehr gegaubt haben. Was aber haben sie gefunden?

Ich erinnere mich noch gut, als wir im Juni 1990, einige Zeit noch vor der Einführung der D-Mark, in der Liebigstraße in Friedrichshain ein Haus besetzt haben. Es war ein regelrechtes Abenteuer, zumal im Erdgeschoss des Gebäudes noch die „Volkssolidarität“ ihre Räume hatte. Westlinke und Ostrentner, wahrhaft eine revolutionäre Mischung. Was uns am meisten überraschte, war die Offenheit, mit der wir, die „jungen Leute von drüben“, zunächst aufgenommen wurden, die praktische Solidarität, die uns zumeist in Form ausrangierter Möbel zuteil wurde. Und plötzlich mussten auch wir improvisieren, wir waren, wenn auch nur für kurze Zeit (und überdies illegal), Bewohner der DDR. Die Schlösser für unsere Etagen kauften wir für Ostmark am Ostkreuz und zum Einkaufen ging es in die Kaufhalle in der Mühsamstraße. Die Regale waren schon fast leer, aber uns kümmerte das nicht. Was wir brauchten, gab es: Brot, billigen Käse, Bier und Klopapier. Das Werkzeug, sozusagen die Grundausstattung des Hausbesetzerlebens, hatten wir aus dem Westen mitgebracht. Zwei Wochen später waren es die alteingesessenen Friedrichshainer, die sich zwischen den Westprodukten in der Kaufhalle zurechtfinden mussten. Zwischenzeiten eben.

Während die Mieter in den Ostberliner Quartieren angesichts der bevorstehenden Vereinigung und der Übernahme des westdeutschen Mietrechts bereits um ihre Wohnungen und Häuser fürchteten, hatten die Westler bei ihrem Sprung in die letzten Wochen des Sozialismus ihre eigene Utopie mitgebracht. Sie hieß: kollektives Wohnen, selbstbestimmtes Leben. Aus dieser Utopie entsprang die westliche, die besetzte Seite der Mainzer Straße. Dass sie mit der Ostseite zwangsläufig in Konflikt geraten würde, hatte damit zu tun, dass die „Normalos“ auf ihrer Seite weniger Utopisches als vielmehr Alltägliches im Sinn hatten – von der Sorge um den Arbeitsplatz bis zur Renovierung der Wohnung. Die von den einen so offensiv zur Schau gestellte Leichtigkeit des Seins war für die andere Seite umso unerträglicher, je unsicherer und schwerer diese Zeit zwischen D-Mark und Grundgesetz wurde.

Ganz anders war es in Mitte und Prenzlauer Berg. Hier war der Aufbruch des Herbst 1989 noch spürbar. In der Spandauer Vorstadt, heute als „Hackescher Markt“ Synonym für das „New Berlin“, sicherte, ähnlich wie im „holländischen Viertel“ in Potsdam, eine Bürgerinitiative die alten Häuser vor dem Verfall. Am Kollwitzplatz und in der Stubbenkammerstraße wurden die ersten Szenekneipen eröffnet, Technoclubs reclaimten alte Bunker und Umspannwerke für sich. Mit tatkräftiger Unterstützung der Kommunalen Wohnungsverwaltung zogen Künstler in leer stehende Gewerberäume oder besetzten das Tacheles. Mit zahlreichen Neugründungen von Zeitschriften und Zeitungen, aber auch Verlagen, zeigte sich das Bedürfnis einer Gegenöffentlichkeit, die dem Vereinigungstaumel West und Ost eine kritische Stimme entgegenhalten wollte. Was im Kreuzberger Milieu der permanenten Konfrontation unmöglich schien, war zwischen Oranienburger Straße und Helmholtzplatz gelebte Praxis: Bürgerbewegte und „Revolutionäre“ bekämpften sich nicht gegenseitig, sondern zogen an einem Strang. Künstler und Prominente unterstützen Hausbesetzer nicht nur, sondern besetzten schon auch mal selbst.

Selbst die Ordnungshüter zeigten sich von ihrer besten Seite. Als an Silvester 1989 die ersten Häuser in der Schönhauser Allee 20/21 besetzt wurden, klopfte die Volkspolizei an der Tür. Die Westberliner Unterstützer, durch Mund-zu-Mund-Propaganda zum Ort des Geschehens gekommen, trauten ihren Augen nicht. Nicht um zu räumen waren die Vopos angerückt, sondern um ihre Solidaritätsgrüße zu übermitteln.

Später dann, als mit der Räumung der Mainzer Straße die Zwischenzeit vorbei war, lebten die unterschiedlichen politischen Kulturen fort: Während die Besetzer in Mitte und Prenzlauer Berg an runden Tischen verhandelten, blieben die Friedrichshainer auf der „richtigen“, der „revolutionären“ Seite.

In Zwischenzeiten geraten auch die Zwischenräume in den Blick. Ein solcher Raum zwischen den Zeiten und Systemen war der Potsdamer Platz. Ehemals Synonym für die moderne Mitte Berlins und später des Todesstreifens an der innerberliner Grenze, war das Areal im „Zentralen Bereich“ nach dem Fall der Mauer zum utopischen Ort der Berliner Metropolenfantasien geworden. Während wir in Friedrichshain von einem anderen Leben träumten, träumten Daimler und Sony den Traum vom richtigen Geld. Es gehört, im Nachhinein betrachtet, zu den großen Ironien dieser Zeit, dass die Debatte um die Bebauung des Potsdamer Platzes ohne größere Proteste aus der Kreuzberger und Friedrichshainer Szene geführt wurde. In der Selbstberauschtheit der Kiezperspektive war für Orte wie den Potsdamer Platz kein Raum. Sie gehörten zu den Orten der „anderen“, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Was man nicht begriff, war die Tatsache, dass die Privatisierung der Stadt, die dort ihren Anfang nahm, an unseren Kiezen einmal nicht Halt machen würde. So kämpften damals lediglich einige Architekten und Planer rund um die Gruppe 9. Dezember gegen den Ausverkauf der Stadt an Daimler. Einige aus dieser Gruppe kämpfen noch heute, allerdings gegeneinander. Dieter Hoffmann-Axthelm, West-Protagonist der Gruppe 9. Dezember, kämpft gegen die baulichen Hinterlassenschaften der DDR, sein Ost-Kollege, der Architekturkritiker Bruno Flierl, will sie erhalten. Auch das Teil jener Ironien.

Aber die Brüche waren schon damals offensichtlich. Schon früh drängte es die Experten aus dem Westen, die Brüder und Schwestern im Osten eines tatsächlich Besseren zu belehren. Vor allem im Bau- und Stadtplanungsbereich rollte eine regelrechte Armada über die Grenzen, nicht nur nach Ostberlin, sondern auch nach Leipzig und Potsdam, wo heute meist abgehalfterte Sozialdemokraten und Grüne das Geschehen bestimmen.

Was den kommunalen Verwaltungen recht war, war den Revolutionären übrigens billig. Auch bei ihnen nahmen die Westler viele Zügel in die Hand. Während der ersten großen Antifa-Demo in Ostberlin warfen im Juni 1990 Westautonome Molotowcocktails gegen Volkspolizisten, die einen Sturm der Antifa auf das von Neonazis besetzte Haus in der Lichtenberger Weitlingstraße verhindern wollten. Zuvor waren sie, zum Entsetzen ihrer Ostberliner Mitstreiter, in militärischer Formation durch die Plattenbauquartiere des Bezirks marschiert und skandierten: „Wir haben euch was mitgebracht: Hass, Hass, Hass!“

Doch Brüche gab es nicht nur zwischen Ost und West. Auch innerhalb der Bürgerrechtler kam einiges in Bewegung, was den Publizisten Christoph Dieckmann später zu dem Satz bewegte: „Jetzt werden wir alle so verschieden wie wir sind.“ Die einen gründeten Parteien, andere traten gleich der CDU bei, andere trieb es zur SED/PDS und ein kleiner Teil versuchte sich selbst treu zu bleiben und tauschte die Oppositionsrolle in der DDR gegen die im vereinten Deutschland. Übrig geblieben ist davon nicht viel, oder erinnert sich noch einer an „Zasilo“, übersetzt: „Zwischen allen Stühlen, Initiative für eine linke Opposition“?

Heiß war er, dieser Sommer im Jahre 1990, sehr heiß sogar. Die Tage der DDR waren gezählt, und ehe sie abliefen, zählten die Ostberliner Gründerzeitbezirke über 130 besetzte Häuser. Zwischen den Zeiten, auch zwischen den Zeitenverschiebungen von Ost und West, flackerte noch einmal auf, was Robert Musil einmal den Möglichkeitssinn genannt hat, ohne den am Ende nur der Wirklichkeitssinn bleibe. So war es auch noch am Vorabend der deutschen Einheit auf dem Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Wo heute Yuppies Seit’ an Seit’ mit dem Bundestagspräsident Wolfgang Thierse leben, feierte Thierse damals Seit’ an Seit’ mit den Gründern der autonomen Republik Utopia. „Unser Bekenntnis zu Deutschland ist ein Bekenntnis zu einer Aufgabe, zu einem Deutschland, wie es werden soll“, sagte Thierse damals. Deshalb habe es ihm in der Nacht zum 3. Oktober auch „gefallen, wie am Kollwizplatz die Republik Utopia ausgerufen wurde“.

Anderen hat es weniger gefallen. Der Westberliner Alternativ-Sender Radio Hundert und der Ostberliner Sender DT 64 zogen im Mitternacht die Klospülung. Und der Piratensender „Radio P“ wusste, dass ab 24 Uhr ein anderes Recht herrschte – das der Bundesrepublik. Und das erlaubte noch nicht einmal die Piraterie im Äther.