Himmelfahrt ist eine Frage der Hydraulik

Wo Tina auftaucht, gibt es seit vielen Jahren das Gleiche – dafür aber stets großen Applaus, Dank und nun auch Gurkensalat in Tupperdosen für alle Generationen. Die altbewährte Turner-Maschine läuft rund. Für ihre aktuelle Tournee mussten lediglich ein paar Schrauben nachgezogen werden
von ARNO FRANK

1.600 Lippenstifte soll sie auf der Tour verbraucht haben. 220 Konzerte in 145 Städten auf fünf Kontinenten. Fast vier Millionen Besucher weltweit, fast zwei Millionen allein in Europa. Eine Abschiedstournee ganz nach dem gediegenen Geschmack der Tina Turner. Vor dreizehn Jahren jedenfalls, 1987.

Auch ihr Abschiedskonzert am vergangenen Freitag fand eine imposante Kulisse – das Olympiastadion in Berlin war zwar nicht ausverkauft, aber immerhin das Olympiastadion. Offenbar die richtige Bühne für eine 61-jährige Großmutter, ihre 40-jährige Karriere noch einmal und buchstäblich Revue passieren zu lassen. Die größten Hits der 60er-, 70er- und 80er-Jahre. Und die allergrößten Megahits von heute. Tina Turner 2000 ist ein biederes Vergnügen.

Mit der Diva ist auch ihr Publikum gereift, das Vergnügen ein beschauliches. Man futtert mitgebrachte Würstchen aus der Tupperdose. Und Schnitzel. Und Gurkensalat. Auffällig viele Pärchen in regenfestem Partnerlook, doch auch die Mutter ist hier mit ihrem Sohn, der Vater mit der Tochter. Altersmilde Rocker sitzen auf mitgebrachten Kissen und nippen an Erdbeerbowle. Acht Mark fünfzig der Becher, ohne Pfand. Geld spielt keine Rolle, wenn man schon einen runden Hunderter für das Ticket hingeblättert hat, entschlossen, es sich im monumentalen Rund gemütlich zu machen.

Zur Einstimmung gab’s untoten Rock ’n’ Roll zum Mitwippen: „Rockin’ All Over The World“, „Have You Ever Seen The Rain?“, „Bad Moon Rising“ von Creedence Clearwater Revival – ein Repertoire wie die Jukebox einer Neuköllner Eckkneipen, abzüglich Wolfgang Petry. Dabei war es der ehemalige CCR-Chef John Fogerty höchstpersönlich, der mit seinem beachtlichen Backkatalog den wackeren Anheizer machte. Mit energischen Begleitern und erhobenen Hauptes erntete er wohlwollenden Applaus. Fogerty mühte sich, der war authentisch, dieser Winzling unter den riesigen Buchstaben über der Bühne: TINA. Ist sie’s auch noch? Um das herauszufinden, waren all die Leute gekommen. Und wahrscheinlich sind sie immer schon genau deshalb gekommen, seit Tina in den 60er-Jahren mit ihrem damaligen Gatten Ike durch Nachtclubs tingelte. Songs wie „I’ve Been Loving You Too Long“ bezogen ihren Reiz aus der aufreizenden Bühnenpräsenz und der eindeutig zweideutigen Weise, in der Tina Turner die Titel interpretierte und noch interpretiert: Mit Worten wie „You know, I need it hard and rough“ spornte sie auch am vergangenen Freitag das männliche Publikum zum Mitsingen an.

Spätestens nach der Phil-Spector-Produktion „River Deep, Mountain High“ von 1966 interessierte sich ein zunehmend weißes Publikum für Ike & Tina – und wurde mit parodistischer Überhöhung schwarzer Sexualität bedient. Als das Paar für das Vorprogramm der Rolling-Stones-Tournee 1969 gebucht wurde und die Popularität ihren ersten Höhepunkt erreichte, da war Tina Turner eigentlich schon zu alt. „Du musstest warten, bis du dreißig bist, um eine Sexbombe für die Blumenkinder werden zu können“, wunderte sich damals der Produzent Terry Waxler. Die Showtreppe hinabsteigen, Bein zeigen, tanzen, röhren, stampfen war und ist ihr Job – und weil die selbstbewusste Überzeichnung weiblicher Libido immer schon komödiantische Züge trug, konnte sie sich noch Jahrzehnte später im Video zu „Steamy Windows“ die gute Stute mimen.

Nach einer abgelesenen Ansprache, fürs deutsche Publikum brav untertitelt, ging’s am Freitag denn auch quer durch die Karriere, immer lippensynchron zu den alten Aufnahmen auf den Leinwänden: „Acid Queen“ zeigt die damals 35-Jährige in der The-Whos-Rockoper „Tommy“, „We Don’t Need Another Hero“ zeigt Tina mit unvermeidlichen Bildern aus „Mad Max“ – ein Konzert wie ein schlecht geschnittener Videoclip, bei dem sich Vergangenheit und Gegenwart zum zeitlosen Produkt verschränkten. Dass ihr Ehemann Ike sie auf Alkohol und Koks halbtot prügelte, dass sie nach ihrer Trennung in den 70er Jahren in den USA auf Betriebsfesten von McDonald’s auftreten musste, blieb natürlich ausgeklammert. Und doch präsent: Erlittenes Elend, so will es der Mythos, hat diese Frau nur noch stärker gemacht.

Ihre siebenköpfige Begleitband agierte dabei dezent und gerne auch im routinierten Leerlauf, wenn die Chefin sich mal wieder umziehen ging. Was ihr in den 80er Jahren an geschmeidigem Pop auf den Leib geschrieben wurde, das kleidet sie noch immer. „Better Be Good To Me“, „What‘s Love Got To Do With It“ oder eine überzuckerte Version von „Help“ wurden mit Wunderkerzen bejubelt. Details wie die Tatsache, dass „We Don’t Need Another Hero“ und „Private Dancer“ weitgehend identisch sind, bewiesen einmal mehr: Die Tina-Turner-Maschine läuft rund, es müssen nur gleichsam die Schrauben nachgezogen werden, um sie dem jeweils aktuellen Zeitgeist anzupassen.

Wie lange die Vermarktung der Legende noch betrieben werden kann, ist eine Frage der Biologie. Ihre abschließende Himmelfahrt auf einem ausgefahrenen Bühnensteg indes war nur eine Frage der Hydraulik.

27. 7. Frankfurt, 28. 7. Köln, 30. 7. Leipzig

Hinweis:Die Showtreppe hinabsteigen, tanzen, röhren und stampfen war und ist ihr Job. Tina 2000: ein biederes Vergnügen