Libanon versöhnt sich mit den „Sündern“

Die erwarteten Übergriffe auf frühere SLA-Kämpfer sind ausgeblieben. Ihr Schicksal stößt nur auf geringes politisches Interesse

Racheaktionen und Massaker – das hat man im Westen erwartet, als die Miliz der Südlibanesischen Armee (SLA) nach dem Abzug der israelischen Armee auf Gedeih und Verderb der schiitischen Hisbollah-Miliz ausgeliefert war. Immerhin 6.000 Kämpfer der SLA flohen nach Israel, rund 2.000 haben sich den libanesischen Behörden ergeben oder gestellt. Doch entgegen allen Befürchtungen ist es nicht zu den erwarteten unkontrollierten Übergriffen gekommen. Der libanesische Staat hat sehr früh zu erkennen gegeben, dass die wiedergewonnene Souveränität über den Süden Anlass sein soll zu einer nationalen Versöhnung und zu einer Überwindung der alten Fronten des libanesischen Bürgerkriegs. Daran hat sich auch die Hisbollah gehalten.

Allerdings wurde von Anfang an auch betont, dass die Milizionäre der SLA sich nicht auf eine generelle Amnestie verlassen könnten, sondern sich vor ordentlichen Gerichten nach libanesischem Gesetz zu verantworten hätten. Inzwischen sind einige hundert derjenigen, die sich den Behörden gestellt haben, abgeurteilt worden – zumeist in Schnellverfahren, deren juristische Qualität von amnesty international in Zweifel gezogen worden ist. Die verhängten Urteile reichen von Haft auf Bewährung bis zu fünfzehn Jahren Gefängnis. Unterschieden werden sollte damit zwischen bloßen Mitläufern oder einfachen Soldaten und Offizieren mit Verantwortung für Angriffe oder gar Morde, wie sie etwa Aufsichtspersonen im berüchtigten Gefängnis von Khiyam begangen haben. Viele der drastischen Strafen wurden dabei gegen jene verhängt, gegen die in Abwesenheit verhandelt wurde.

Die Armee hält sich zurück

Eine Art Sippenhaftung für Familien – ob es sich nun um Schiiten oder maronitische Christen handelte – hat die libanesische Regierung von vornherein ausgeschlossen, weil dies dem Gedanken einer „nationalen Versöhnung“ widersprochen hätte. Das libanesische Parlament hat nach der „Befreiung“ lediglich eine demonstrative Sitzung in dem südlibanesischen Städtchen Bint Jbeil abgehalten, um die wiedergewonnene Souveränität zu feiern. Auch die libanesische Armee, die vom Westen und von Israel wiederholt aufgefordert wurde, die Kontrolle im Süden zu übernehmen, um die Sicherheit an der Grenze zu garantieren, hat sich in Zurückhaltung geübt, um Zusammenstöße mit der Hisbollah zu vermeiden. Diese Zurückhaltung ist auch auf dem Hintergrund der Unsicherheit zu sehen, die der Tod des syrischen Präsidenten Hafis al-Assad, dessen Armee mit rund 30.000 Soldaten im Libanon stationiert ist, ausgelöst hatte. Lediglich die maronitische Kirche machte sich zum zaghaften Fürsprecher der SLA-Milizionäre – diese seien „Sünder“, denen bei tätiger Reue für ihre Taten „Milde und Vergebung“ in Aussicht gestellt werden sollte.

Das Schicksal der SLA-Milizionäre stößt im Libanon nur auf ein geringes politisches Interesse. Bedeutung hat es für die Regierung allenfalls in Hinsicht auf die nächste internationale Geldgeberkonferenz, die den Wiederaufbau im Süden mitfinanzieren soll. Da ist die juristische Aufarbeitung der Taten der SLA-Milizionäre und ihre glimpfliche Behandlung ein eindeutiges Plus.

Gegenüber Deutschland, das bei der Geberkonferenz mit am Tisch sitzt, äußern libanesische Regierungsvertreter allerdings Unverständnis. Dass Libanesen, die aus dem Bürgerkrieg geflohen sind, ebenso wie Palästinenser, zumeist ohne Pass und Flüchtlingsdokument, jetzt wieder in den Libanon abgeschoben werden, während zugleich SLA-Milizionäre, die in Israel, also einem sicheren Drittstaat leben, ein Aufenthaltsrecht erhalten sollen, stößt in Beirut auf absolutes Unverständnis. Viele der in Deutschland lebenden Libanesen stammen aus dem Süden Libanons. Unverständlich erscheint den Libanesen in diesem Zusammenhang auch, dass die Regierung in Berlin nichts unternimmt, um die Freilassung der immer noch in Israel inhaftierten Hisbollah-Vertreter zu erreichen. Dies ist deshalb von Bedeutung, weil sich die deutsche Regierung über den ehemaligen Kanzleramtschef Schmidbauer wiederholt um die Freilassung oder die Aufdeckung des Schicksals israelischer Piloten wie Ron Arad bemüht hat, der 1982 über dem Südlibanon abgeschossen wurde und seither verschollen ist.

GEORG BALTISSEN