Gipfelferien auf Okinawa

aus Nago auf Okinawa GEORG BLUME

Für die meisten Deutschen beim Wirtschaftsgipfel der sieben reichsten Industrienationen und Russlands auf Okinawa war es wie bei einem Ferienausflug auf eine „sehr schöne Insel“ (Gerhard Schröder über die Nachbarinsel Okinawas, Miyakoshima): Tagsüber legten sich Beamte und Journalisten in die Sonne oder unter eine Palme. Abends kam dann der Bundeskanzler zu ihnen und erzählte auf der Strandterrasse von seinen langen Sitzungen.

Gerhard Schröder war anscheinend der Einzige, der in der Tropenhitze den ganzen Tag arbeitete. Dabei musste er sich Vorträge des französischen Präsidenten Jacques Chirac über die japanische Kampfsportart Sumo anhören und ständig auf den US-amerikanischen Präsidenten Bill Clinton warten, der zu jeder Verabredung als Letzter erschien. Kein Wunder, dass Schröder manchmal ins Schwitzen kam. War er doch der Einzige, der tagsüber kein erfrischendes Bad im Pazifik nehmen konnte.

So vergeht ein Weltwirtschaftgipfel natürlich wie im Fluge. Er dauerte übrigens nur zweieinhalb Tage, während deren man über alles, was weltpolitisch irgendwie von Bedeutung erscheint, ein Wort verlieren musste. Darauf war der Bundeskanzler unter den Mitgliedern der deutschen Delegation im Ferienhotel Nikko Alivila am besten vorbereitet. Ob in Sachen Schuldenerlass für die Ärmsten – der in Okinawa ganz oben auf der Tagesordnung stand, auch wenn keine neuen Entschlüsse gefällt wurden – oder beim einzigen echten Streitpunkt des Gipfels, der Diskussion um genmanipulierte Lebensmittel: Schröder hatte die meisten Zahlen im Kopf und vermittelte im Ton des pflichtbewussten Sozialdemokraten auch das größte Engagement.

Auf ernste Themen nicht erpicht

Es gelang ihm spielend, nach 16 Stunden Sitzungsmarathon und einem Nickerchen in der Kanzlerlimousine dem zur Mitternachtsstunde vom Strandleben erschöpften Pressekorps die „zentrale Message“ des Gipfels zu verklickern: „Ich glaube, dass dies der Gipfel der vollen Integration Russlands in die G 8 ist“, sagte Schröder voller Lob für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Und keinem fiel eine Nachfrage zu Tschetschenien ein.

Die Journalisten, die den größeren Teil der Delegation bildeten, waren auf die eigentlichen Themen des Gipfels von vornherein nicht sehr erpicht. Sie stellten Gerhard Schröder Fragen wie: „Gefällt Ihnen Wladimir Putin?“ An das brennende Problem der russischen Plutoniumentsorgung, das am Samstag auf der Tagesordnung der acht Regierungschefs stand, nur um aufgrund deutscher Vorbehalte gegen die Verlagerung der Hanauer Nuklearanlagen nach Russland erneut verschoben zu werden, verloren die Medienbegleiter dagegen keinen Gedanken. Es lag nicht an Schröder, dass man heute nicht mehr von der delikaten Sache weiß als vorher.

Es lag aber auch am Kanzler und nicht nur an der Tropenstimmung in Japans südlichster Präfektur, dass dem Gipfelgeschehen auf Okinawa aus deutscher Sicht eine gewisse Ernsthaftigkeit fehlte. Zu viel war im Strandhotel von den deutschen Erfolgen der letzten Wochen die Rede. Franz Beckenbauer und Hans Eichel wurden öfter erwähnt als Bill Clinton und Yoshiro Mori, der japanische Gastgeber.

Anders als bei Amerikanern, Briten und Franzosen war die aus Berlin angereiste politische Elite der Bundesrepublik nicht von einem Tag auf den anderen in der Lage, von Innen- auf Weltpolitik umzustellen. Einige der Protagonisten aus dem Umfeld des Kanzlers wussten und beklagten das. Aber inwieweit der Bundeskanzler selbst den globalen Fragen nachsann und es mit seiner gewohnt schnellen Auffassungsgabe nicht nur der Situation halber tat, blieb im Unklaren. Er scheint nicht unglücklich mit der Perspektive, dass eines Tages ein direkt gewählter europäischer Präsident die Rolle der vier Vertreter Westeuropas am Tisch der G-8-Staaten übernehmen könnte. Ein Bundeskanzler könnte dann mit Reisen wie nach Miyakoshima vorlieb nehmen.

Der Kanzlerausflug auf die winzige japanische Insel Miyakoshima zwischen Okinawa und Taiwan bildete für die anwesenden Deutschen den Höhepunkt des Unterhaltungsprogramms während des Gipfeltreffens. Dabei gab es auch sonst schon Popmusik zum Abendessen der Regierungschefs und ein Stelldichein der Staatsmänner in bunten Okinawa-Hemden; nur Gerhard Schröder und Jacques Chirac verweigerten die Verkleidungsfolklore.

Armutsbekämpfungspolitik

Das alles aber reichte immer noch nicht, um von den ernsthaften Themen des Gipfels abzulenken. Zusätzlich besuchte Schröder am Freitag das „deutsche Kulturdorf Ueno“, eine Touristenattraktion, die auf dem kuriosen Einfall des Bürgermeisters von Miyakoshima beruht, der vor einem pazifischen Korallenriff die Marksburg aus dem Rheingau originalgetreu hat nachbauen lassen.

Natürlich war der Kanzler nicht ganz zu Unrecht entzückt. Wie Kindergartenkinder eines fernen Kontinents plötzlich seinen Namen kreischten, wie trommelnde Teenager in den Tropen einen Gedenkstein für ihn errichteten – das konnte Schröder nicht ganz kalt lassen. Aber es schmeckte eben sehr nach Ferienausflug.

Wo aber bleibt das Bitterernste der Weltpolitik? Was wird aus den Schulden der Dritten Welt, die man erlassen wollte, und dem Versprechen, allen Kindern der Welt eine Schulerziehung zu gönnen? Das alles steht auf Papier. 14 eng beschriebene Schreibmaschinenseiten ist die Abschlusserklärung der G 8 vom Sonntag lang. Darin stehen so schöne Sätze wie: „Eine neue Ära beginnt. Lasst uns zusammen vorwärts gehen, voller Hoffnung, einem 21. Jahrhundert entgegen, das uns größeren Reichtum, tieferen Seelenfrieden und größere Stabilität verspricht.“ Aber es finden sich dort auch hässliche Worte: „Es gibt heute wie schon 1990 immer noch 1,2 Milliarden Menschen, die mit weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen“, stellen die G 8 fest. Das ist das indirekte Eingeständnis einer im Weltmaßstab völlig verfehlten Armutsbekämpfungspolitik.

Schröder hat für diese Aufgaben seine „Heidi“. Manchmal lobt der Kanzler die Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul schon genauso hoch wie Hans Eichel. Wie unnachgiebig sie ihr Thema bearbeite. Und wie bedeutend der deutsche Beitrag zur Entschuldung der Dritten Welt ihretwegen sei. Womit er insofern Recht hat, als die Deutschen derzeit nicht zu den Blockierern eines schnelleren Schuldenerlasses für die 40 ärmsten Länder der Welt gehören. Aber sie sind mit Heidis Kräften und der Unterstützung des britischen Premiers Tony Blair auch nicht stark genug, die Schuldenerlassinitiative spürbar voranzubringen.

Was Schröder natürlich nicht sagt. Im Ergebnis besteht damit weiterhin Unklarheit darüber, wie vor allem die Weltbank den Schuldenerlass in Zukunft handhabt. Denn an ihren Bedingungen scheitern bisher die meisten Entschuldungsprogramme. Einen „verschwendeten Gipfel“ nannte die Schuldenerlasskampagne „Jubilee 2000“ gestern das Treffen von Okinawa.

Schulerziehung für alle Kinder

Dem widerspricht allerdings eine andere Nichtregierungsorganisation (NGO): „Es war angemessen, dass sich dieser Gipfel auf die Teilhabe der Armen an den Vorteilen der Globalisierung konzentrierte“, lobt die englische Entwicklungshilfeorganisation Oxfam das schriftliche Versprechen der G 8, bis zum Jahr 2015 jedem Kind der Welt eine Schulerziehung zu verschaffen. Den Deutschen auf Okinawa war dieses Versprechen freilich so fremd, dass sie es bei keinem Gespräch erwähnten. Woran man erkennt, dass es zwischen dem, was auf dem Papier steht, und dem, was gesagt wird, einen genauso großen Unterschied gibt wie zu dem, was schließlich getan wird.

Wer kennt diese Unterschiede besser als der Bundeskanzler? Sicherlich niemand. Trotzdem hat Schröder während der Gipfelferien ein paar bemerkenswerte Dinge gesagt. Zum Beispiel: „Es darf keine neue Kluft zwischen Erster und Dritter Welt entstehen. Afrikas friedliche Entwicklung liegt in unmittelbarem nationalem Interesse Deutschlands.“

So was hört man zu Hause in Deutschland eher selten von ihm – auch weil die Medien in der Regel nicht dafür sorgen, dass den Kanzler seine Ferienerkenntnisse bis in den Alltag verfolgen.