Der Fall Dietrich von Oppen

Klaus Ahlheim enthüllt in einem spannenden Buch, wie der Marburger Theologe und Sozialethiker von Oppen konsequent seine nationalsozialistische Vergangenheit vertuscht hat. Viele Kollegen wollten es erst nicht wissen und dann nicht wahrhaben
von WOLFGANG RIELAND

Seit dem spektakulären Fall des Aachener Germanisten Hans Schwerte alias Hans Ernst Schneider ist ein seltsames Phänomen erneut ins Blickfeld geraten: die geschmeidige Anpassung vieler Professoren, die treu zum Nationalsozialismus standen, an das akademische Leben der Bundesrepublik. Was waren das für Wissenschaftler, so fragt man sich, die je nach Couleur der Obrigkeit die Farbe wechseln konnten, obwohl sie durch das Ethos ihres Berufs der Wahrheit verpflichtet sein sollten? Wie konnten sie so gar keine Hemmungen haben, Tatsachen aus ihrem zurückliegenden Leben und Werk in einer Art zu unterschlagen und zu vertuschen wie sonst nur gewöhnliche Betrüger?

Klaus Ahlheim enthüllt nun eine weitere auf geschönten Fakten aufgebaute Wissenschaftskarriere: den Fall des Marburger Theologen und Professors für Sozialethik, Dietrich von Oppen, der von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1980 an der Marburger Philipps-Universität lehrte. Dass von Oppens wissenschaftliche Karriere nicht erst nach dem Krieg begonnen hatte, war allgemein in Vergessenheit geraten. Auch von Oppen selbst wollte sich nicht erinnern, dass die von ihm 1955 in Druck gegebene Doktorarbeit sich von jener unterschied, die er 13 Jahre zuvor zum Zweck der Promotion an der Universität Innsbruck eingereicht hatte. In Fällen wie diesem wurde die Kultur des Vergessens dadurch unterstützt, dass gerade Doktorarbeiten der NS-Zeit aus den Bibliotheken jener Universitäten, denen sie einst vorgelegt wurden, beizeiten „verschwanden“. Darauf hatte wohl auch von Oppen gehofft, als er mit wachem politischem Instinkt 1955 eine stark veränderte, ja gereinigte Fassung seiner Dissertation drucken ließ. Deren Original jedoch schlummerte unterdessen in den Archiven der Universität Innsbruck, wo man beim Verschwindenlassen inopportuner Schriften nach 1945 offenbar nicht mit deutscher Gründlichkeit vorgegangen war.

„Deutsche, Polen und Kaschuben in Westpreußen 1871–1914“, so lautete ganz harmlos der Titel der 1955 gedruckten Fassung. Das Original von 1942 hieß nicht so harmlos: „Die Umvolkung in Westpreußen von der Reichsgründung bis zum Weltkriege“. Der 29-jährige Doktorand sprach darin von „großen Verlusten“ des Deutschtums im Osten „durch Verpolung“ und davon, dass von den Ostprovinzen her das Reich „verjudet“ – „der Parasit folgt seinem Wirtsvolk auf dem Wege in die Großstadt“. Den Polen wiederum, so las man, wurde alle „wirkliche Kultur“ „durch die Deutschen vermittelt“. „Heute“, also 1942, „brauchen wir nicht mehr gegen die Polen ein Anrecht auf diesen Raum zu begründen.“ Auf der Tagesordnung stehe die „deutsch(e) Gestaltung des großen Ostens, von dem Westpreußen nur ein Glied ist“. Dies waren nicht gerade Gedankengänge, die unbedingt zum Sozialethiker qualifizierten.

Die Marburger Lokalzeitung veröffentlichte 1995 erstmals einen Bericht Ahlheims über von Oppens Originaldoktorarbeit. In der folgenden heftigen Kontroverse meldete sich auch von Oppen selbst zu Wort: Die „mit Recht beanstandeten“, aber „kurzen“ Passagen seiner Doktorarbeit hätten damals „Schutzfunktion“ gehabt „und entsprachen nicht meiner Überzeugung“.

Klaus Ahlheim geht es in seiner Studie nicht darum, einen einzelnen Hochschullehrer wie von Oppen zu entlarven und an den Pranger zu stellen. Vielmehr beschäftigt ihn die systematische Frage, wie sich der Anspruch des Wissenschaftlers auf Wahrheit der Erkenntnis verträgt mit seiner Abwehr von Erkenntnis in Bezug auf den eigenen wissenschaftlichen Werdegang. Am exemplarischen Fall dokumentiert der Autor die Funktionsweise eines nicht wenig verbreiteten professoralen „Opportunismus gewissermaßen als professorale Schlüsselqualifikation“. Und er benennt die Konsequenz dieser Art von akademischem Verhalten: „Verschweigen, Verdrängen, Schönfärben und Vertuschen wirken sich in fatal unterschwelliger Weise auf das wissenschaftliche Denken, Schreiben, Lehren aus.“ Mit großem Ernst stellt er die Frage nach der analytischen Kompetenz und Wahrhaftigkeit des Forschers und Lehrers, der nach 1945 „neu“ ansetzt – und das mit Verdrängung statt mit Aufklärung. Gleichzeitig führt der Autor die Mechanismen eines bis heute virulenten professoralen Korpsgeistes vor: Aufklärung in den eigenen Reihen wird, wenn es nicht mehr anders geht, zwar lautstark befürwortet, aber zugleich nach Kräften zu verhindern gesucht.

Die spannende Studie schließt in dramatischer Zuspitzung. Ahlheim zitiert aus der Innsbrucker Promotionsakte Dokumente, die eindeutig belegen, dass von Oppen gelogen hat, als er behauptete, die rassistischen und antisemitischen Tiraden seiner Doktorarbeit entsprächen nicht seiner Überzeugung. Oder funktionierten Täuschung und Selbstbetrug nach 50 Jahren so perfekt, dass er von seiner einstigen Überzeugung, von der er nichts mehr wissen wollte, wirklich nichts mehr wusste? Jedenfalls lässt die Akte keinen Zweifel, dass von Oppen ein ehrlich überzeugter Nationalsozialist war – kein bloßer „Mitläufer“ oder Opportunist (was, wie Ahlheim anmerkt, für einen Wissenschaftler ja auch nicht gerade eine Empfehlung ist).

In seinem auf den 2. 2. 1942 datierten Lebenslauf schrieb von Oppen: „Politische Tätigkeit: 1. 11. 1933 Eintritt in die SS, Pg. seit 1. 5. 1937“, und fuhr dann fort: „Zweijährige Mitarbeit im studentischen Landdienst Kurmark (1935 bis 1937). Wiederholt eigene Arbeit auf grenzmärkischen Bauernhöfen. Selbständige Herausgabe einer Landdienstzeitschrift.“ Seiner Bitte um Erlass der Promotionsgebühren fügte er in Abschrift eine „Ehrenurkunde über Teilnahme an einer Reichssiegerarbeit im studentischen Reichsleistungskampf“ bei, mit der ihn der Reichsstudentenführer ehrte „für besonders gute Leistungen im 2. Reichsberufswettkampf der deutschen Studenten“. Die – freiwillige – Teilnahme am studentischen Reichsberufswettkampf, das muss man wissen, kam nur für überzeugte Nationalsozialisten in Frage; im studentischen Landdienst hatten die in Dörfern an der Ostgrenze des Reichs eingesetzten Studenten den Auftrag, die „Gefahr des Vordringens fremden Volkstums“ zu bekämpfen und den „nationalpolitisch indifferenten“ Bauern ein „deutsches Volksbewusstsein zu geben“. Diese Leistungen des cand. phil. von Oppen im Dienst deutscher Besatzungs- und Germanisierungspolitik waren dem später angesehenen Sozialethiker im Lauf der Jahre leider völlig entfallen.

Doktorvater Theodor Schieder jedenfalls attestierte von Oppens Doktorarbeit, sie erwecke „erhebliches politisches Interesse“ und zeige „den engen Kontakt des Verfassers mit den Problemen des Volkstumskampfes im Nordosten“. Und sogar die NSDAP-Reichsleitung interessierte sich für die Arbeit und bat um ein Exemplar, da sie „für eine Verzeichnung in der Nationalsozialistischen Bibliographie in Betracht“ komme.

All diese biografischen Details hat von Oppen auf dem Weg aus der nationalsozialistischen Diktatur in die demokratische Bundesrepublik konsequent getilgt. Seine Doktorarbeit wurde in gründlich gereinigter Fassung 1955 gedruckt, 1957 folgte bei Helmut Schelsky die Habilitation, 1960 der Ruf nach Marburg. So „kam das äußere Leben immer mehr zur Ruhe“, wie von Oppen im Rückblick 1985 geradezu rührend schrieb. Da glaubte er wohl selbst schon an seine von ihm geschönte Vita. Ahlheims Verdienst ist es, den ganzen Schwindel ans Licht zu bringen – und zu zeigen, was für eine „Kultur des Nicht-Wahrnehmens und Nicht-Wahrhaben-Wollens an der [. . .] Universität noch immer fortlebt“, und zwar unbeschadet der Tatsache, dass dort die alten Nazis nicht mehr lehren. Ein höchst lesenswertes Buch.

Klaus Ahlheim: „Geschöntes Leben. Eine deutsche Wissenschaftskarriere“. Offizin Verlag, Hannover 2000, 92 Seiten, 24 DM

Zum Thema lohnt die Lektüre vonClaus Leggewie: „Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte lernen wollte“, Carl Hanser Verlag, 1998, 368 Seiten, 45 DM