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: Die produktive Krise bei Schriftstellern – ein Paradox?

Musenküsse und Schreibblockaden

Von Hofmannsthals Chandos-Brief bis zu Hildesheimers Ende der Fiktionen, vom trotzigen, ästhetischen Abschwören der 68er-Generation bis zu Koeppens resigniertem Schweigen – die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts ließe sich auch als eine Geschichte von höchst unterschiedlich motivierten Sprach-, Ausdrucks- und Erzählkrisen schreiben. Die Unzulänglichkeit der Sprache gegenüber einer immer komplexer werdenden Wirklichkeit, aber auch die selbstkritische Einsicht in die dubiosen Rollenklischees einer Schrifstellerexistenz in literaturfeindlicher Zeit erschüttern früher oder später jeden, der sich ernsthaft mit den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Literatur auseinander setzt.

Bewältigt werden diese Krisen – von den Ausnahmen radikalen Verstummens abgesehen – in der Regel schriftlich, in Form neuer Werke. Der Autor gleicht in solcher Bewältigung dem Baron von Münchhausen, der sich selbst am Schopf der Sprache mitsamt seinem Pegasus aus dem Sumpf der Krise herauszieht.

Von den wirklichen Sprachkrisen der Schriftsteller wissen wir allerdings wenig. „Gemeint sind jene Krisen, die so durchschlagend sind, dass sie ihre Opfer zum literarischen Schweigen zwingen. Radikale Sprachkrisen erzeugen keine Texte, sie verhindern sie. Und diese verhinderten Texte können naturgemäß nicht gedruckt, gelesen und gedeutet werden.“ In seinem Essayband „Über die Schrift hinaus“ eröffnet Hans-Ulrich Treichel mit diesen Worten einen Aufsatz über Hofmannsthals 1902 geschriebenen Chandos-Brief, der als eines der berühmtesten, zeitgenössischen Dokumente von Schreibkrise und „writer’s block“ gilt – und eben dies gar nicht ist, sondern bestenfalls die Darstellung einer solchen Krise auf höchstem Sprachniveau.

Unter dem Titel „Kunstpause“ hat der in Paris lebende Schriftsteller und Zeichner Roland Topor einen sehr schönen, kleinen Roman zum Thema verfasst. „Die Ideen wollen einfach nicht mehr sprießen“, heißt es da, und so macht sich der Autor zu einer Flanerie durch Paris auf, deren Erfahrung ihn so anregt, dass er wieder und weiterschreiben muss. Und da jeder Autor, der es ernst meint, schreiben muss, ist die Blockade dieses Bedürfnisses tatsächlich katastrophal. „Schreiben“, so Paul Auster in seinem Essayband „Die Kunst des Hungers“, „ist für mich kein Akt des freien Willens mehr, es ist eine Sache des Überlebens.“ Der Titel der Sammlung bezieht sich auf Hamsuns Debütroman „Hunger“, den Auster als „unmittelbaren Ausdruck der Bemühung“ sieht, „sich selbst auszudrücken“, als „Kunst des Verlangens“.

Damit ist ein Generalbass der modernen Literatur angeschlagen, der einserseits zu einem selbstgenügsamen Ästhetizismus führte, andererseits – wie etwa bei Joseph Brodsky – zu einem radikalen Solipsismus: „Jede ästhetische Wahl ist eine hoch individuelle Angelegenheit, und ästhetische Erfahrung ist immer privater Art.“ Brodskys Essays, Reden, autobiografische Stücke, Porträts und Ansprachen aus den vergangenen 25 Jahren, die der Band „Der sterbliche Dichter“ versammelt, kreisen alle um dieses Zentrum.

Das Gegenteil der Schreibkrise ist das, was sich als Inspiration, Schaffensrausch oder Musenkuss nur schwer metaphorisch fassen lässt. In einem Essay mit dem schlichten Titel „Die Musen“ umkreist Raoul Schrott zentrale Probleme vom Ursprung der Dichtung. Da der Mythos, so Schrott, nie das ist, „was er, sondern dass und wie er erzählt“, lässt sich nicht analysieren, wer die Musen waren. Der Mythos „lässt sich nicht in eine abhandelnde Prosa umschreiben, genauso wenig wie die Paraphrase ein Gedicht ersetzen kann. Der Mythos erzählt sich selbst.“

Oder er wird neu erzählt, zum Beispiel im Medium des Romans „Die Muse“ von Mary Gordon. Es geht hier um eine Künstlerin, der sich völlig überraschend ein Mann als Muse andient: Der Mann ist reich, er sieht gut aus, und er versteht etwas von Malerei. Was derart paraphrasiert nach Boheme-Kitsch klingt, entpuppt sich als intelligenter Roman über die „Kunst des Verlangens“ auf erotischer wie auch auf ästhetischer Ebene.

Auf einer Deutschlandreise lernte der Franzose Henri-Pierre Roché 1907 den Literaten Franz Hessel kennen. Aus der Bekanntschaft erwuchs eine lebenslange Freundschaft und eine lebenslange Liebe zur gleichen Frau, nämlich zu der Malerin und Modejournalistin Helen Grund. Sie heiratete zwar Hessel, aber die Dreierbeziehung hielt weiterhin an.

Roché hat später aus dieser komplizierten Romanze seinen herrlich unkomplizierten, durch François Truffauts Verfilmung berühmt gewordenen Roman „Jules und Jim“ gemacht, der unter anderem auch sehr wesentlich ein Buch über die inspirierende Kraft der Erotik ist, ein Buch wie ein Musenkuss.

KLAUS MODICK

Hans-Ulrich Treichel: „Über die Schrift hinaus“. edition suhrkamp. 241 Seiten, 19,90 DMRoland Topor: „Kunstpause“. rororo. 152 Seiten, 14,90 DMPaul Auster: „Die Kunst des Hungers“. rowohlt paperback. 270 Seiten, 22 DMMary Gordon: „Die Muse“. btb. 415 Seiten, 20 DMHenri-Pierre Roché: „Jules und Jim“. Aufbau TB. 248 Seiten, 14 DMRaoul Schrott: „Die Musen“. dtv. 220 Seiten, 19,50 DMJoseph Brodsky: „Der sterbliche Dichter“. Fischer TB. 312 Seiten, DM 24,90