Keine Publikumsverhexung

Spiel mit fremden Orten: Das Theater NN im Altonaer Kulturbahnhof
 ■ Von Petra Schellen

Ein Ort hat etwas Mystisches. Man macht ihn sich durch Schauspielern zu eigen. Und jede Menge Aberglaube ist auch dabei... Das sind Worte, die Dieter Seidel, Gründer und Leiter des Theater NN, das seit April vorigen Jahres im Altonaer Kulturbahnhof residiert, gar nicht gern hört. Denn ein klein wenig abergläubisch ist er zwar schon, aber von rituellen Handlungen sind er und sein vier-bis siebenköpfiges Ensemble, das derzeit eine Weill-Revue in den alten Lagerhallen spielt, weit entfernt.

Wichtiger ist Seidel, an die Stelle aufwendiger Requisiten die Räume zu setzen – und zwar solche, in denen noch nie zuvor Theater gespielt wurde und die das Ensemble sich selbst erobert. So, wie sie sich das Erdgeschoss des Altonaer Kulturbahnhofs durch eigenhändigen Ausbau erobert haben - und durch die vorsichtige erstmalige Sommer-Bespielung der Lagerhalle.

Im Mai 1989 ist Seidel aus der DDR gekommen und hat dann an der Hamburger Stage School of Music, Dance and Drama studiert, von wo er regelmäßig ausbrach: „Wir haben mit ein paar Kollegen auf Rügen Stücke einstudiert und sind dann durch Deutschland getourt“, sagt er. Und erzählt, dass sie ein Stück elfmal uminszeniert haben, wenn sie den Ort wechselten: „Es macht einen großen Unterschied, ob man Romeo und Julia im Wald spielt oder zwischen gotischen Säulen. Wenn man dasselbe Stück im echten Wald spielt, hat es eine viel sinnlichere Note.“

Sinnlich und unterhaltend sollen die Stücke, die das Theater NN spielt, überhaupt sein – ob sie nun von Shakespeare sind, vom zerrissenen Franz Schubert handeln oder vom rastlosen Weill wie derzeit „Der Zuschauer soll hineingezogen werden ins Stück – aber sich nie ganz darin verlieren. Bei unserer Romeo- und Julia-Aufführung im Kloster Chorin z. B. haben wir zur Totenmesse die echten Glocken geläutet; die Zuschauer gingen hinter der Bahre her. Und dann kamen sie in eine kitschigst dekorierte Kirche, die einfach nicht ernst gemeint sein konnte“, schwärmt Seidel.

Der Regisseur liebt solche Brüche, mit denen er das Publikum wieder in die Realität zurückzerrt – genau wie bei der aktuellen Weill-Revue. Ihn habe an der Altonaer Lagerhalle die Weite gereizt, die Züge, die man von Ferne fahren sieht und hört. „Die Unrast, die Weill empfunden hat, wollen wir spürbar machen – aber natürlich auch nicht pur: Das Publikum sitzt nämlich bei Kerzenlicht an Biertischen, während die Schau anfängt und von Krieg und Tod spricht. Darauf können sich die Leute dann einlassen oder nicht.“

Auf den Ort eingelassen haben sich inzwischen auch die Ensemblemitglieder des Theaters NN, die „hier keinen Pfennig verdienen, nebenbei jobben und hier oft nur für die Miete unserer Räume arbeiten. Denn wir bekommen keine Zuschüsse von der Stadt und haben die Lagerhalle zur Bespielung auch nur für diesen Sommer gemietet; im Herbst wollen wir wieder touren“, sagt Seidel. Schade findet er es zwar, dass außer seinem Theater bislang niemand den „Kulturbahnhof“ bespielt. Aber da die Deutsche Bahn die anfangs günstigen Preise wohl inzwischen angezogen habe, seien viele freie Gruppen wieder abgesprungen.

Was wird also aus den einstmals zur Parzellierung vorgesehen Lagerhallen? Dieter Seidel zerbricht sich darüber nicht mehr den Kopf: „Wir haben hier unsere Heimstatt gefunden, in der auch die Teilnehmer unserer Workshops zur Ruhe kommen können.“ Und deshalb haben er und seine Leute vor der Halle ein kleines Ahornbäumchen gepflanzt.