Erst Bürger, dann Beamte

Der Senat missbraucht den öffentlichen Dienst als Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Ein Wechsel der Perspektive ist überfällig: Eine verantwortliche Politik muss zuerst fragen, was die Stadt braucht

von RALPH BOLLMANN

Zu schön, um wahr zu sein: Trotz der geschätzten 1,2 Milliarden Mark, die dem Land Berlin durch die Steuerreform im Jahr 2001 an Einnahmen entgehen, hat der Senat den Landeshaushalt gestern so beschlossen, wie er schon vor der Reform geplant war. Einzige Ausnahme: Die Einnahmen aus dem Verkauf landeseigener Unternehmen und Immobilien erhöhen sich auf wundersame Weise um den fehlenden Betrag – obwohl nicht mehr Anteile verkauft werden sollen als zuvor.

Kritiker nennen ein solches Verfahren „virtuelle Konsolidierung“. Schon für sich genommen ist der Verkauf des städtischen „Tafelsilbers“ ein Kunstgriff, um die Bilanz des Landes schönzurechnen. Nur mit Hilfe dieser einmaligen Erlöse ist es gelungen, die Neuverschuldung innerhalb von sieben Jahren zu halbieren – auf nur noch 3,7 Milliarden Mark im kommenden Jahr. Doch die Kluft zwischen laufenden Einnahmen und Ausgaben beträgt selbst nach der optimistischen Rechnung der Finanzverwaltung noch immer rund sechs Milliarden Mark.

Spätestens im Haushaltsjahr 2002 hat der Senat deshalb ein gewaltiges Problem. Zu verkaufen gibt es dann fast nichts mehr. Steigen die Steuereinnahmen nicht sprunghaft an, bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder, die Neuverschuldung bewegt sich wieder nach oben – eine Variante, die Finanzsenator Peter Kurth (CDU) ausgeschlossen hat. Bleibt Variante zwei: Die Ausgaben werden so gesenkt, dass es den Rahmen der bisherigen Sparhaushalte sprengt.

Bei den so genannten Sachausgaben – dazu zählen Investitionen ebenso wie Zuschüsse beispielsweise für Hochschulen oder Theater – gibt es nicht mehr viel Spielraum. Will der Senat das ehrgeizige Ziel verwirklichen, die Neuverschuldung bis zum Jahr 2009 auf Null zu bringen, muss bei den Personalausgaben wirklich gekürzt werden.

Ausgerechnet dieser große Posten, der mit rund 14 Milliarden Mark jährlich die eigenen Steuereinnahmen des Landes fast zur Gänze verschlingt, ist in all den Jahren der Konsolidierung nur unwesentlich geschrumpft. Der gewaltige Stellenabbau – von 220.000 Landesbeschäftigten im Jahr 1992 auf derzeit noch rund 170.000 – hat fast ausschließlich dazu gedient, die fälligen Gehaltssteigerungen für das verbliebene Personal zu finanzieren. Rund eine Milliarde Mark kostete allein die Angleichung der Ost-Gehälter für Arbeiter und Angestellte.

Eine Gegenleistung für den sicheren Arbeitsplatz, im wirtschaftsschwachen Berlin ein unschätzbares Privileg, hat der Senat von den Arbeitnehmern nie verlangt. Von einem angemessenen Solidaropfer West war nicht die Rede, als der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) vor der 1995er-Wahl die Tariferhöhung Ost verkündete. Und als Innensenator Eckart Werthebach (CDU) im vorigen Jahr – wiederum vor einer Wahl – Kündigungen bis zum Jahr 2004 vertraglich ausschloss, waren auch die Gewerkschafter ganz platt: Sie bekamen die Garantie ohne Gegenleistung.

Erstaunlich, dass der Aufstand jener rund drei Millionen Berliner bislang ausgeblieben ist, die nicht direkt oder indirekt vom öffentlichen Dienst leben. Wie in alten Westberliner Zeiten missbraucht der Senat diesen Bereich als Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Ein Wechsel der Perspektive ist hier überfällig. Der Staat ist nicht in erster Linie für seine Beschäftigten da, sondern für seine Bürgerinnen und Bürger. Eine verantwortliche Politik müsste also zuerst definieren, was für die Stadt nötig ist – und erst dann fragen, mit welchem Personal diese Aufgaben zu meistern sind.

Die herrschende Politik der Besitzstandswahrung ist nicht nur teuer, sie ist auch ungerecht und kontraproduktiv. Weil beispielsweise Künstler und Nachwuchswissenschaftler nur befristete Arbeitsverträge in der Tasche haben, fielen ihre Stellen den Kürzungen oft als erste zum Opfer – während überbesetzte Verwaltungen weiter alimentiert werden müssen. Und für die junge Generation ist der „sozialverträgliche“ Stellenabbau gar nicht verträglich: Neueinstellungen sind nicht möglich, mit allen Folgen für die Innovationskraft.

Auch für die Beschäftigten selbst erweist sich die Politik des „Weiter so“ als fatal. Finanzsenator Kurth verkündete gestern erstmals, er schließe betriebsbedingte Kündigungen im Kulturbereich nicht mehr aus – eine Folge verschleppter Reformen. Bis 2004 sind die anderen Bereiche noch durch Werthebachs Wahlkampfpakt geschützt. Wenn vorher nichts geschieht, kommt dann das böse Erwachen.