Die Tragik des Mauermanns

Hagen Koch half beim Bau der Mauer und riss sie im staatlichen Auftrag wieder ab. Doch die Mauer zu seinem Sohn kann der ehemalige Stasi-Offizier nicht überwinden. Denn der saß im Stasi-Knast

von PHILIPP GESSLER

Hagen Koch ist ganz in seinem Element. Er redet über sich. Einen Vortrag von 30 Stunden habe er ausgearbeitet, erzählt er den gut zwölf Jugendlichen, die ihm lauschen. Aber er werde seine Geschichte auf zwei Stunden beschränken – „zwei Stunden!“, ächzt ein Junge, der von Pubertätspickeln geplagt ist.

Die jungen Leute, die an diesem Abend ins Museum am Checkpoint Charlie, dem bekanntesten Mauermuseum Berlins, gekommen sind, haben keine Chance. Sie gehören einem Jugendfeier-Vorbereitungskurs an, und deshalb geht’s bei Koch, der am Wochende 60 Jahre alt wurde, mal wieder um das große Ganze. Und das heißt: Alles dreht sich um ihn. Um den Mister Berlin Wall. Den Stasi-Mann, der die Mauer aufzubauen half. Der sie in staatlichem Auftrag wieder abriss und noch heute von ihr lebt. Und dem Stasi und Mauer den Sohn raubten.

Es gibt viele zerstörte Menschen in der Hauptstadt, doch wahrscheinlich ist der „Mauerexperte“ Koch einer der kaputtesten. Zumindest ist er einer, der seine Brüche zu Markte trägt, sie öffentlich seziert, ja danach giert, sie vorzuzeigen. Ein Fernsehteam, erzählt er, wolle einen Film nur über ihn drehen. Anderthalb Stunden! Japaner! Koch ist jedes Publikum recht. Wer einmal in seine braunen Augen geschaut hat, weiß: Koch braucht Aufmerksamkeit.

Die Rechtfertigung

„Warum machen wir Dinge, obwohl wir wissen, dass sie falsch sind?“, fragt er die Jugendfeier-Kids. „Wegen unserer Gefühle“, antwortet er selbst. Und dann beginnt sie: die große Rechtfertigung des Hagen Koch, und sie fängt ganz von vorne an.

Als Sohn eines Berufssoldaten wächst er in einer Kaserne in Dessau auf. Bei Kriegsende ist er fünf Jahre alt. Sein Vater Heinz sei gezwungen worden, in die Partei einzutreten, sagt Koch – nur so sei er, als angeblicher Kriegsverbrecher verurteilt, aus dem Gefängnis gekommen. Damit ist Kochs Grundmelodie angeklungen: Schuld sind eigentlich immer die Umstände.

Der SED-Bürgermeister von Zerbst in Sachsen-Anhalt drängt Vater Koch, der Lehrer wurde, seinen Sohn als Erstes in die FDJ zu schicken. Hagen ist ein braver Junge, er wird ein treuer Pionier. Er zeigt die Stundentafel von damals mit der Agitation gegen die Kartoffelkäferplage, an der angeblich die Amis schuld waren. „Ich habe das geglaubt“, sagt Koch. So wie sein Vater noch drei Tage vor Kriegsende an den Endsieg glaubte.

Als Sohn eines bürgerlichen Lehrers erhält Hagen im Gegensatz zu seinen Klassenkameraden aus Arbeiter- und Bauernfamilien trotz guter Noten und „Betragen 1“ kein Stipendium. Über Jahre darüber hinweggetröstet, langt es ihm irgendwann. Kurz vor dem Abitur schmeißt er hin, verlässt die Schule und macht eine Ausbildung als technischer Zeichner. Das ist auch eine Niederlage für die Lehrer. Deshalb laden sie ihn zu Kaffee und Kuchen und bieten auch ihm einen Deal an: Er brauche nicht mehr in die Schule. Aber wenn er in die Partei eintritt, ist die Schmach getilgt, alle Wege stünden ihm wieder offen. Dass er erst 17 ist: kein Problem! Koch wird SED-Mitglied. Der schneidige Genosse macht was her und kann gut reden. Freundliche Männer des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) fragen ihn, ob er in das Wachregiment der DDR, eine Abteilung der Stasi, eintreten will. Eine Eliteeinheit! Koch sagt zu und wird schon nach vier Tagen dazu auserkoren, bei einer SED-Delegiertenkonferenz unter den Augen des Stasi-Bosses Erich Mielke zu sprechen – es gibt ein Foto davon: Hagen Koch zeigt es. Er kann das belegen. Koch kann immer alles belegen.

Mielke ist beeindruckt von dem Jungen – er soll gefördert werden. Deshalb wird er im Wachregiment, später nach dem berüchtigten KGB-Gründer Felix Dserschinski benannt, rasch Leiter des Zeichenbüros. Sein Auftrag: Planungsskizzen, etwa für Paraden. Im Juni 1961 plant er die berühmte Pressekonferenz Walter Ulbrichts, in der der DDR-Chef den Satz sagte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.“ Doch am 13. August wird sie gebaut. Und Hagen Koch hat sein Lebensthema gefunden.

Der Pinselstrich

Zwei Tage nach Mauerbau ist er als junger Gefreiter Teil einer Delegation, die die noch brüchige Trennlinie mitten durch Berlin begutachtet – unter ihnen zeitweise auch Erich Honecker. Koch, der als Kartograf die Übereinstimmung der Bauten mit dem tatsächlichen Grenzverlauf überprüfen soll, ist der Rangniedrigste in der Besuchergruppe. Deshalb bekommt er den Auftrag, am Grenzübergang Checkpoint Charlie mit Pinsel und Farbe den genauen Grenzverlauf nachzumalen. Ein Bein im Osten, eines im Westen, zieht er auf dem Trottoir die Linie zwischen den Supermächten.

Inzwischen hat er geheiratet, seine frühe Liebe Elke. Sie hat viel Westverwandtschaft und arbeitet bei einem Privatbäcker. Die Stasi ist gegen die Verbindung, Kochs Schwiegermutter wegen seines Spitzeljobs auch. Sie schmeißt die Tochter raus. Er sucht die Öffentlichkeit, wie immer, wenn es hart wird, und heiratet sie, in Uniform.

Ein paar Jahre später will Koch die Stasi verlassen. Er hat die Hoffnung auf Karriere im MfS aufgegeben. „Lasst mich mit meinen Karten in Ruhe“ – das sei seine Einstellung gewesen, erzählt Koch. Er bleibt auf Unteroffiziersrängen hängen. Doch der Spitzelverein will ihn nicht gehen lassen. Koch weiß zu viel. Als auch eine Woche Arrest nichts fruchten, wird Druck auf seine Frau ausgeübt. Sie wird für seine Unzuverlässigkeit verantwortlich gemacht, ebenso sein Vater. Der ist uneheliches Kind eines Holländers, der ihn in der DDR besucht. Auch das: negativ.

Kochs erster Sohn wird geboren. Wegen ein paar lahmer anzüglicher Witze in einer Hochzeitszeitung wird dem Ehepaar Koch die Produktion pornografischer Schriften vorgeworfen. Seiner Frau wird gedroht, ihr den Sohn zu nehmen, wenn sie sich nicht scheiden lässt. Sie willigt ein. „Und wegen so einer lässt du deine Karriere sausen“, höhnen die Genossen. Doch ein Jahr später heiraten sie wieder. Noch heute ist Elke seine Frau.

Koch wird ab 1970 für die Kulturarbeit des Wachregiments verantwortlich. Er muss sich um kasernierte Einheiten kümmern, versucht, deren Tristesse durch Kontakte zu Schulen oder Freigänge im Berliner Nachtleben aufzuhellen. „Ich war ein besserer Kulturhausonkel“, sagt er. Kommt Kochs Egozentrik, seine Sucht nach Öffentlichkeit aus dieser Zeit der Bedeutungslosigkeit und Demütigung?

Der Schwatzhafte

Der Stasi-Kulturoffizier verheimlicht in der Öffentlichkeit seinen Arbeitgeber nicht. Er gilt laut Stasi-Unterlagen als „aktenkundig schwatzhaft“. Koch bekommt keine geheimen Informationen mehr zu hören. Das war Strategie, sagt er, nur wenn er nichts mehr wusste, konnte er raus aus der Stasi. Auch dies kann er belegen. Er zeigt Fotos von sich bei Kulturfesten, samt Kameraden in Kasernen und Stasi-Dokumente. Die kriegt zu sehen, wer ihn in seinem privaten Mauerarchiv in einer Plattenbauwohnung aufsucht. Den Besucher bombardiert er mit Akten, Fotos, Briefen, Büchern, Videos und sogar einer riesigen FDJ-Fahne aus Seide.

Über seinen ältesten Sohn zeigt Koch keine Dokumente. Vielleicht weil durch ihn seine Schwejkiade zu einer Tragödie wird. Denn in den 70er-Jahren trägt sein Sohn lange Haare, er hängt ab in der Boheme- und Oppositions-Szene am Prenzlauer Berg und findet es schrecklich, dass der Vater für die Firma arbeitet. Die Stasi verbietet Hagen Koch den Kontakt zu seinem Sohn. Der wird rebellisch, erhält öffentliche Tadel, prügelt sich gern und landet wegen „Rowdytum“ und „Angriff auf die Staatsgewalt“ insgesamt drei Mal im Knast. Zwischendurch heiratet der wie sein Vater eine Frau mit zu engen Westkontakten. Schließlich wird der Sohn sogar für zwei Jahre im berüchtigten Gefängnis Bautzen eingebuchtet. Unter den Mithälftlingen streut die Stasi, dass dieser Knastbruder einen MfS-Vater hat. Da kriegt er auch von seinen Gefängniskameraden Prügel. Er habe nichts für seinen Sohn tun können, sagt Koch.

Als gebrochener Mann wird der Sohn entlassen. Er fängt an zu saufen und landet auf der Straße. Der Kontakt zum Vater bricht endgültig ab. Spätestens da wollte Hagen Koch nichts mehr mit seinem Staat zu tun haben, erzählt er. Dann endlich, 1985, erreicht er seine Entlassung aus der Stasi. Er findet Arbeit im Zentrum für Kunstausstellung der DDR in Ostberlin. Koch sagt, er sei von Kollegen gedrängt worden, wieder den Parteisekretär des Betriebs zu spielen: Sie seien sicher gewesen, sich auf ihn verlassen zu können. Das werde ihm noch heute vorgeworfen. Wegen Kontakten zu einem ZDF-Korrespondenten wird er 1987 kurzzeitig verhaftet. „Genosse Koch steht gern im Mittelpunkt“, steht in seiner Stasi-Akte.

Der Abriss

Die Stasi erinnert ihn an seine lebenslängliche Verpflichtung zu Spitzeldiensten und verlangt, dass er seine Fehler wieder gutmachen soll: Er soll wieder Informationen liefern. Eine schwere Gelbsucht verhindert das für sechs Monate. Am 2. November 1989 erhält er einen „Traumjob“, im Institut für Denkmalpflege der DDR. Als ehemaliger Kulturbeauftragter scheint er der rechte Mann dafür zu sein. Als die Mauer wenige Tage später fällt, ist er an der richtigen Stelle. Die frei gewählte Regierung de Maizière ernennt ihn zum Beauftragten für den Mauerabriss. Koch erhält Zugang zu geheimen Stasi-Dokumenten über den Mauerbau, sammelt in Archiven und Müllhalden, wo Dokumente in den turbulenten Wendetagen landen, alles, was er nur finden kann. Im November 1990 wird er wegen seiner früheren Stasi-Arbeit entlassen: „Mit einem Mal bin ich der Stasi-Verbrecher.“ Dann arbeitet Koch bei einer Spedition. Und wird 1992, wegen Berichten über seine Vergangenheit, erneut arbeitslos.

Er gründet sein privates Mauerarchiv. Doch die Unterlagen, die er in der Wendezeit über die Mauer rettete, schaffen ihm auch Probleme: Die Sonderabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft für „DDR-Regierungs- und Vereinigungskriminalität“ ermittelt gegen ihn wegen Untreue und Unterschlagung. Koch besitzt offizielle Ostberliner Fotos der gesamten Mauer vom Frühjahr 1989. Das seien genau 1.084 Bilder, wie er fünfmal betont. Das Glanzstück seines Archivs. Die alten Stasi-Leute hassen ihn, sagt er. Sie verhinderten, dass er für seine Arbeit Fördergelder bekomme. Schon oft sei sein Auto demoliert worden, er erhalte anonyme Drohungen. Die Reaktion Kochs: Wieder sucht er die Öffentlichkeit, stellt sich für Journalisten, Historiker und Regisseure als „Mauerexperte“ zu Verfügung.

Der Egozentriker

Von diesen Expertisen lebt er derzeit. Endlos kann er darüber reden, mit wem er alles schon gedreht hat: mit Schlöndorff, von Trotta, dem Regisseur der „Sonnenallee“, Leander Haussmann – und immer geht es um die Mauer, stets um ihn. So versessen wie akribisch sammelt er die TV- und Filmschnipsel mit ihm, zeigt jedem Besucher die Bilder von Kanzler Schröder, vom Künstler Christo und von anderen Prominenten, die etwas von ihm wollen. Und hier, noch dieser Artikel in der Chicago Tribune, von einer Pulitzer-Preisträgerin, und dieser Film vom WDR! Mit ihm! Da seine CD-ROM, hier seine Homepage und dort die Aktenordner, in denen er Belege für die Intrigen gegen sich sammelt. Koch macht müde. Seine Egozentrik macht den eher netten Mann unsympathisch. Darin liegt Tragik.

Im vergangenen Herbst zum zehnjährigen Mauerfall war seine Hoch-Zeit. Journalisten gaben sich bei Koch die Klinke in die Hand. Und immer wieder wollen manche auch die Geschichte von ihm und seinen Sohn hören, vom Stasi-Mann, der für Honecker die Mauer vermaß, sie für de Maizière wieder abriss und seinen Sohn im Gefängnis schmoren ließ – schmoren lassen musste. Doch den Sohn will Koch nicht in die Öffentlichkeit zerren. Ihn würfen Interviews aus der Bahn, jetzt, da er wieder Fuß fasse.

Koch, der so viel zu sagen hat, wird einsilbig, wenn es um sein ältestes Kind geht. Nur seine Frau telefoniere ab und zu mit ihm. Die Fassade bröckelt, wenn er von seinem Sohn redet. Ein Verletzter spricht dann. „Ich möchte noch mal mit ihm ganz normal am Kaffeetisch sitzen“, sagt Koch. Der Mann, der die Mauer abriss, kann die zu seinem Sohn nicht überwinden. Hagen Koch ist ein Gläubiger, der seinen Glauben verloren hat. Jetzt glaubt er nur noch an einen – an sich selbst.