interview mit dem menschenrechtsaktivisten frank lu siqing

„Ich rechne damit, dass es in Zukunft bei Protesten mehr Todesfälle geben wird“

Frank Lu Siqing betreibt in Hongkong das Informationszentrum für Demokratie und Menschenrechte in China.

taz: Gibt es mehr Proteste in China?

Frank Lu Siqing: Nach mir vorliegenden internen Informationen der chinesischen Regierung kam es 1998 in der Volksrepublik landesweit zu insgesamt 60.000 Protestaktionen, also knapp 200 pro Tag. 1999 waren es sogar 100.000 Proteste aller Art. Dieses Jahr werden es wohl noch mehr. Immer mehr gehen auf die Straße.

Wie erklären Sie sich den Anstieg?

Durch die Reform der Staatsbetriebe verlieren immer mehr Menschen die Arbeit. Denn 60 Prozent dieser Betriebe machen Verluste. Die Landwirtschaft hat in den vergangenen Jahren bis zu 140 Millionen Arbeitskräfte freigesetzt, die sich auf den Weg in die großen Städte machen, um dort Arbeit zu finden.

Sind die Behörden toleranter?

In 300 Städten sind spezielle Polizeieinheiten von jeweils 500 bis 2.000 Mann eingerichtet worden. Sie werden besonders für den Umgang mit Demonstranten ausgebildet. Ich rechne damit, dass sie künftig stärker zum Einsatz kommen, um Demonstrationen zu zerschlagen.

Wie erklären Sie sich, dass die Behörden offenbar viele Proteste dulden?

Die Behörden können die Probleme nicht lösen, auch die Polizei kann das nicht. Der Einsatz der Staatsgewalt macht die Menschen nur noch wütender auf die Kommunistische Partei. So gab es vor vier Monaten einen Protest in der ostchinesischen Provinz Jiangsu, bei dem 600 Polizisten mit Tränengas gegen 5.000 Demonstranten vorgingen. Doch nach zehn Minuten waren die Tränengasvorräte erschöpft. Die Demonstranten demolierten darauf 24 Polizeifahrzeuge. Ich rechne deshalb damit, dass es in Zukunft bei Protesten mehr Todesfälle geben wird. Da bin ich mir sicher. Der bei dem Protest in Shandong zu Tode gekommene Polizist war erst der Anfang.

Interview: SVEN HANSEN