Chinesen erdulden nicht alles

von SVEN HANSEN

Entlassene Arbeiter, um ihre Jobs fürchtende Lehrer, geprellte Anleger, von Vertreibung oder abgestellter Wasserzufuhr bedrohte Stadtteilbewohner oder unter Dürre leidende Bauern: Sie alle eint im China von heute der spontane Protest. Elf Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung hat sich wieder eine Demonstrationskultur herausgebildet, mit der mutiger gewordene Chinesen versuchen, sich gegen empfundenes Unrecht zu wehren. Während wie am vergangenen Wochenende die Proteste der als bedrohlich eingestuften Sekte Falun Gong auf Pekings Platz des Himmlischen Friedens nach wie vor im Keim erstickt werden und auch gegen Dissidenten weiter mit unverminderter Härte vorgegangen wird, verhalten sich die Behörden gegenüber spontanen Protesten lokaler Bevölkerungsgruppen toleranter.

„Chinesen sind für ihre Geduld bekannt, und man kann an unserer Geschichte sehen, dass sie meist ruhig bleiben. Wenn sie aber aufstehen, haben sie meist nichts mehr zu verlieren“, sagt der Gewerkschaftsaktivist und Dissident Han Dongfang, der von Hongkong aus über Streiks in China berichtet. Laut offiziellen Statistiken hat sich die Zahl der Arbeitskonflikte in China von 1992 bis 1999 vervierzehnfacht. Zwar werden sie inzwischen auch ehrlicher gezählt, doch dürften vor allem die Reformen der Staatsbetriebe, die damit einhergehende wachsende Arbeitslosigkeit und die weit verbreitete Korruption zum starken Anstieg der Arbeitskonflikte beigetragen haben. Proteste gelten dabei als einziges Mittel, um die Aufmerksamkeit von Behörden und Öffentlichkeit zu erregen.

Die Arbeitslosigkeit lässt die Betroffenen verzweifeln. Sie wehren sich erst recht dann, wenn sie das Gefühl haben, dass sie die Zeche für die Misswirtschaft lokaler Kader und Fabrikdirektoren zu zahlen haben und dabei noch Opfer von Korruption sind. So wurden Manager und lokale Beamte schon von aufgebrachten Arbeitern als Geiseln genommen und erst dann wieder freigelassen, als den Demonstranten die Zahlung ausstehender Löhne zugesagt wurde. Doch selbst Studenten der Pekinger Universität haben wieder erfolgreich demonstriert, als sie sich kürzlich nach Tagen des Protestes eine Trauerfeier für eine ermordete Kommilitonin erstritten.

Zur einer gängigen Protestform hat sich auch in China die Blockade von Straßen und Eisenbahnstrecken entwickelt. So blockierten Ende Juni in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan, 2.000 Händler traditioneller chinesischer Arzneien eine Hauptverkehrsstraße, nachdem die Lokalregierung von ihnen exorbitante Gebühren erheben wollte. In Shenyang, der Hauptstadt der Provinz Liaoning, sollen Straßenblockaden frustrierter Arbeiter inzwischen so häufig sein, dass der lokale Rundfunk sogar Verkehrshinweise über „menschliche Verkehrsblockaden“ gibt, wie Taxifahrer berichten. In Liaoning blockierten im Februar von Entlassung bedrohte 20.000 Bergarbeiter drei Tage lang eine Zugstrecke und zündeten Autos an, bis die Polizei sie mit Warnschüssen auseinandertrieb.

Doch nicht selten zeigt die Polizei sogar ein gewisses Verständnis für die Proteste und versucht, die Demonstranten zu überzeugen, statt gewaltsam gegen sie vorzugehen. Sie muss ohnehin vorsichtig lavieren, um nicht durch harte Reaktionen zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Abgesehen davon dürften sich die Behörden auch der Ventilfunktion der Prosteste bewusst sein, sofern es sich lediglich um kurzfristige, spontane Aktionen handelt.

Nach wie vor nicht geduldet werden Proteste, die die Macht der Kommunistischen Partei herausfordern. Dazu gehören alle Aktionen auf dem zentralen und sehr symbolischen Platz des Himmlichen Friedens in Peking oder Aktionen, die mit politischen Forderungen nach freien Wahlen, einem Mehrparteiensystem oder dem Ende der Herrschaft der Kommunistischen Partei einhergehen. Proteste von Falun-Gong-Anhängern werden weiter nicht geduldet, weil die KP das Organisationspotenzial und die Stärke des meditativen Glaubens der buddhistisch-taoistischen Sekte als Bedrohung für ihr Machtmonopol empfindet. Denn politische Reformen sind nach wie vor nicht vorgesehen. Das Problem für die Regierung besteht jedoch darin: Je mehr sie spontane Unmutsäußerungen duldet, umso mehr traut sich die Bevölkerung zu.