in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über brüderliche Propheten

„Das wird heute nichts“

Gestern Abend war mein Bruder zu Besuch bei mir. Wobei ich eigentlich schreiben müsste, dass er zu Besuch kommen wird, denn diesen Text schreibe ich vorher. Ich kann aber schon jetzt sagen, dass wir uns über Fußball unterhalten haben, denn ein wenig haben wir darüber immer gesprochen. Manchmal auch über nichts anderes. Der Umgang meines Bruders mit Fußball hat jedoch immer eine etwas leichtere Note gehabt als mein eigener. Jahrelang haben Claus und ich zwar auf der Tribüne unseres Lieblingsvereins zusammen gestanden, aber für ihn hatten die Ereignisse auf dem Rasen nie eine solch schwere Bedeutung wie für mich.

Grauenhaft und empörend fand ich es daher etwa, wenn er bei Gastspielen des FC Bayern die Seite wechselte und sich das Spiel aus der Kurve der Gästefans anschaute, um einen der wahrscheinlichen Siege über unseren Klub zu feiern. Als Ausweis mangelnder Charakterfestigkeit und fehlender Prinzipientreue erschien mir das. Eine regional unerklärliche Vorliebe für Werder Bremen oder den VfB Stuttgart hätte ich ihm noch verzeihen können, aber nicht eine für die Erfolgsfabrikanten aus München.

Außerdem setzte er seine Besuche im Stadion immer wieder aus und erschien wochenlang zu den Spielen nicht, ja er verpasste ganze Halbserien. Offensichtlich war ihm anderes wichtiger, wobei mir nicht immer klar gewesen ist, was das eigentlich war. In solchen Zeiten schien Claus den Kontakt zum Fußball fast völlig verloren zu haben, hatte weder von sensationellen Transfers noch atemberaubenden Skandalen gehört, derweil ich fast panisch versuchte, den Ereignissen möglichst lückenlos zu folgen. Die offensichtliche Sorge trieb mich, durch ein verpasstes Heimspiel den Kontakt zum großen Ganzen zu verlieren, während es für Claus wohl nur um einen schönen Zeitvertreib ging. Jedenfalls tauchte er irgendwann wieder auf, stellte sich im Stadion neben mich und jubelte dann einfach wieder so enthusiastisch oder fluchte so beeindruckend derb wie alle anderen Gemeindemitglieder drumherum auch – als wäre er nie weg gewesen.

Von meiner Position aus, die man durchaus puristisch nennen kann, erschien mir dieses Verhalten meines Bruders als Ausdruck einer schwankenden Persönlichkeit. Noch schlimmer aber war, dass sich in den empörendsten Momenten, die ich mit ihm erlebt habe, darin sein kompromisslos klarer Blick offenbarte. Ich kann mich noch gut erinnern, als Claus zum ersten Mal den bösen Satz aussprach und ihm auch gleich die Tat folgen ließ. „Das wird heute nichts“, sagte er also, „ich geh’ jetzt, tschüs.“ Dann schob er sich durch die Menge dem Ausgang zu, und ich schaute ihm entsetzt hinterher. Das war eine halbe Stunde vor Ende des Spiels, wo doch nichts verloren war.

Einige Wochen später wiederholte sich dieses Schauspiel erneut, was von den Umstehenden mit noch heftigerem Kopfschütteln begleitet wurde. Diesmal ging er nämlich schon zur Halbzeitpause und wieder einige Spiele später bereits nach zwanzig Minuten. Offensichtlich hatte er Vergnügen an seinen frühen Abgängen gefunden. Etwas rebellisch wirkte er dabei. Hatten wir nicht gelernt, dass aufgegessen wird, was auf den Teller kommt und die neunzig Minuten mit Nachspielzeit auch? Und er ließ den Rest einfach liegen. Das Schlimmste daran war jedoch, und inzwischen muss ich zugeben, dass es zugleich das Großartigste war: Er behielt stets recht. Das wurde wirklich nichts mehr. Seine Abgänge waren die eines Propheten der Niederlage. Ohne Claus war keine Hoffnung mehr, das Urteil war gesprochen, es galt nur noch, die Zeit bis zum Vollzug der Niederlage zu erdulden.

Schon lange haben wir kein Spiel mehr zusammen angeschaut, was angesichts dieser Umstände wohl verständlich ist. Andererseits wäre es auch mal wieder schön. Doch gestern werde ich ihn erst einmal gefragt haben, ob er immer noch vor dem Abpfiff das Stadion verlässt, weil er längst gesehen hat, wohin sich das Rad des Schicksals bewegen wird. Oder ob diese unerträgliche Hellsichtigkeit endlich verflogen ist.

Fotohinweis:Christoph Biermann, 39, liebt Fußball und schreibt darüber