Rechenschwach – was tun?

Etwa jeder fünfte Schüler hat Probleme im Mathematikunterricht. Experten fordern, dass bereits im Kindergarten mathematisches Denken besser gefördert werden müsse. Häufig leiden Kinder am meisten unter ihrer Rechenschwäche

von CLAUDIA BORCHARD-TUCH

Soll Manuela 62 minus 53 rechnen, bekommt sie als Ergebnis 11 und erklärt, dass sie beim Subtrahieren immer die kleinere von der größeren Zahl abziehen müsse. Peter kann nicht kopfrechnen. Aufgaben wie 16 plus 2 oder 31 plus 2 kann er nur schriftlich lösen. Manuela und Peter sind rechenschwach. Dyskalkulie – Rechenschwäche – ist als isolierte schulische Minderleistung in Mathematik definiert. Oft produzieren rechenschwache Kinder nicht einfach Unsinn, sondern zeigen in ihren Fehlern eine verstehbare innere Logik. Häufig werden Einer und Zehner oder ähnliche Ziffern wie 6 und 9 vertauscht. Rückwärtszählen erscheint schwierig und Rechenarten werden verwechselt. Die Rechenschwäche kann zu Angst führen – Angst vor Klassenarbeiten und Lehrern, vor den Misserfolgen in Mathematik, die sich immer wieder einstellen – obwohl vorher zu Hause fleißig geübt wurde.

Die Ursachen der Dyskalkulie sind nicht genau bekannt. Wahrscheinlich wirken psychische, physische und soziale Faktoren in komplexer Weise zusammen. Lehrer, Ärzte und Therapeuten hören von der Mutter des rechenschwachen Kindes sehr oft, dass die Schwangerschaft zeitweise oder langfristig liegend verbracht wurde, das Baby per Kaiserschnitt zur Welt kam und später nicht gekrabbelt hat. So könnten den Kindern mit Rechenschwäche wichtige Reize in verschiedenen Phasen der Entwicklung gefehlt haben.

Der Neurologe Brian Butterworth von der Universität London fand einen bestimmten Bereich im linken Scheitellappen, der ermöglicht, Zählbares in der Umgebung zu erkennen und Zahlen im Kopf zu verschieben. Wird dieses Zentrum zerstört, geht jegliches Zahlenverständnis verloren. Alle anderen geistigen Fähigkeiten – zum Beispiel Schreiben, Lesen und Sprechen von Worten – bleiben erhalten.

„Eins, zwei, drei, vier. Weiter zählen geht nicht.“ Dies sind die Worte von S. Gaddi, einer 59-jährigen Frau. S. Gaddi erlitt einen Schlaganfall, der den linken Scheitellappen ihres Gehirns beschädigte. Seitdem steht sie auf vollkommenem Kriegsfuß mit der Mathematik. Sie kann Zahlen, die größer sind als vier, weder lesen, schreiben noch mit ihnen rechnen. Bedeutet dies, dass unser Gehirn und damit unsere genetische Veranlagung bestimmen, ob wir mit Zahlen umgehen können oder nicht? „Nicht unbedingt“, meint Butterworth. „Fast jeder Mensch kann zählen lernen.“ Butterworth untersuchte zahlreiche Kulturen und fand keine, der die Fähigkeit zu zählen völlig fehlte. Den australischen Aborigines fehlen die Worte für Zahlen über drei, aber auf die Frage „Wie viele?“ zeichnen sie Striche in den Sand.

Kürzlich zeigten Untersuchungen, dass nur wenige Monate alte Babys zwischen eins und zwei unterscheiden können. Offensichtlich stattet uns die Natur mit der Fähigkeit zum Zählen aus. Aber ist auch das Verständnis für die höhere Mathematik angeboren? Für Butterworth liegt der Grundstein dieses Verständnisses nicht in der Gehirnstruktur, sondern in der Kultur. „Übung hat die Meister wie Gauss oder Ramanujan gemacht“, sagt er.

Wenn alle Menschen – außer den wenigen, die Opfer eines Schlaganfalls sind oder angeborene Hirnveränderungen haben – über eine angeborene Fähigkeit zu zählen verfügen, warum sind dann viele so schlecht im Rechnen? Nach Butterworth liegt die Ursache in der Erziehung. Die meisten Kinder müssten sich Rechnen durch mechanisches Auswendiglernen von Tabellen und Regeln aneignen – etwas, das ganz sicher jeglichen Spaß an der Sache nehmen kann.

Auch Stanislas Dehaene, Neuropsychologe am Institut National de la Santé in Paris, ist überzeugt, dass der Mathematik-Unterricht neu belebt werden solle. „Wir leben in einer Welt, die voll ist von unterscheidbaren, zählbaren Dingen, und die Evolution hat das menschliche Gehirn mit der Fähigkeit ausgestattet zu zählen. Aber die Architektur des menschlichen Primatengehirns dient nicht dem Zweck, höhere Mathematik zu betreiben“, meint Dehaene. „Unsere natürliche Umgebung beruht nicht auf abstrakter Mathematik, und der menschliche Verstand arbeitet nicht wie ein Computer.“

Dass sich etwas ändern muss, belegen die Zahlen: Wie der Experte für Rechenschwäche Jens Holger Lorenz von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg berichtet, haben ungefähr 15 bis 20 Prozent aller Schüler Schwierigkeiten im Mathematikunterricht, sechs Prozent gelten als extrem rechenschwach. Lorenz ist überzeugt, dass sich in erster Linie die Schule den rechenschwachen Kindern anzunehmen habe. Seine Meinung bleibt jedoch nicht unwidersprochen. Friedrich H. Steeg, Diplompsychologe, hält Rechenschwäche für eine schulinduzierte Störung, um die sich die Schule nicht ausreichend kümmern könne.

Vorbeugen ist besser als Heilen: Bereits im Vorschulalter kann die Rechenfähigkeit gefördert werden – durch mathematisches Tun. Die Mathematikerin Margret Schmassmann befasst sich seit mehr als 25 Jahren mit dem mathematischen Lernen. Sie appelliert an Eltern und Kindergärtnerinnen, mathematisches Denken bewusster in die Erziehung einzubringen. So wird beispielsweise in den Rahmenlehrplänen für Kindergärten die sprachliche Entwicklung häufig direkt erwähnt, „Mathematik“ hingegen kommt nur selten und versteckt vor, obwohl mathematisches Tun aus dem Kindergarten nicht wegzudenken ist.

Fantasie beim Zählen

Wie unsere Vorfahren, die zuerst nur der Eins und der Zwei Namen gaben, wird auch die Dreijährige andere Möglichkeiten des Zählens entdecken. Ein Vierjähriger schreibt die Zahl eins verkehrt. Weil die Eins „nach rechts schauen“ muss, dort, wo er einen Löwen gemalt hat, schreibt er den Schrägstrich rechts. So äußert sich keine Dyskalkulie, sondern Fantasie, in der Zahlen lebendige Wesen mit menschlichen Eigenschaften sind. Viele Dinge im Vorschulalter bieten Gelegenheit für den Umgang mit Zahlen, Formen und Mustern, für das Zählen, Ordnen und Vergleichen. In der Schule gibt es trotzdem genug „Mathematik zu tun“. Dort müssen – unabhängig von der realen Alltagssituation – Beziehungen zwischen Zahlen und Größen entdeckt werden. Oft macht sich die Rechenschwäche im kognitiven Bereich erst in der Schule bemerkbar. Kinder mit Dyskalkulie bleiben „zählende Rechner“: Sie erkennen Größen, Mengen und logische Zusammenhänge nicht und verwechseln mathematische Zeichen. Die Seitigkeit – Rechts- oder Linkshänder – ist häufig nicht eindeutig, und die räumliche und zeitliche Vorstellung (früher – später) fehlt.

Wenn Eltern mit dem Lehrer sprechen, erhalten sie oft keine neuen Informationen. Zumeist kennen Eltern die typischen Fehler ihrer Kinder besser als die Lehrer, wissen aber ebenso wenig wie die Lehrer, was man dagegen tun kann. Auch ein Nachhilfelehrer kann bei massiven Lernschwierigkeiten, die nicht auf einem Zurückbleiben im Unterrichtsstoff beruhen, meist nur feststellen, dass auch intensive Einzelbetreuung keinen Erfolg hat. Nur wenige Schulpsychologen sind im Bereich Teilleistungsschwächen ausgebildet. Schulpsychologen können zwar Verfahren anwenden, die es erlauben, eine Rechenschwäche mit Hilfe von standardisierten Intelligenztests zu diagnostizieren. Die individuelle Art der jeweiligen Rechenschwäche bleibt jedoch unbekannt. Ein Arzt kann feststellen, ob das Kind durch körperliche oder seelische Probleme belastet ist, die mit einer Rechenschwäche im Zusammenhang stehen könnten.

Rechenschwäche ist jedoch zumeist keine schwere Krankheit, denn rechenschwache Kinder sind in der Regel intelligent und gesund. Doch die Rechenschwäche selbst kann zu Persönlichkeitsstörungen führen. „Misserfolg“ wird als persönliche Eigenschaft aufgefasst. Je mehr das Schulversagen zur Hoffnungslosigkeit führt, umso stärker ist das seelische Gleichgewicht gefährdet. Seelische Behinderung und soziale Isolation können die Folge sein. Die Schule versucht zu helfen. Durch Förderunterricht in Kleingruppen leistet sie Nachhilfe. Besser ist eine zur Zeit nur an wenigen Schulen bestehende Betreuung der Kinder durch so genannte Integrationslehrer – Sonderschullehrer, die lernschwache Grundschulkinder mit betreuen.

Dass es noch bessere Fördermöglichkeiten gibt, zeigt die Margarethenschule in Münster, Westfalen. Dort hat der Schulleiter Franz Ahrenhövel spezielle Programme entwickelt. Nach einer umfassenden Diagnose wird ein individuelles Therapieprogramm aufgestellt: Wahrnehmungsübungen, Bewegungsförderung (Kanufahren mit Überkreuzung der Körpermittellinie, Reiten und Voltigieren), Rechnen und Arbeiten am Computer. In den Sommerferien werden Intensivkurse veranstaltet. Wichtig für den Erfolg sind die Verknüpfungen zwischen Motorik und Kognition.

Oft leiden die Eltern eines rechenschwachen Kindes genauso viel wie das Kind selbst. Um aus dieser Lage herauszukommen, hilft keine Panik, sondern nur ein wohl überlegtes, schrittweises Vorgehen. Werden Lernprobleme frühzeitig erkannt und fachkundig therapiert, kann der programmierte Misserfolg in der Schule verhindert werden – bevor der Erwachsene nicht mehr lernen kann, was ihm als Kind nicht beigebracht worden ist.