: Ein Stück Meer in den Bergen
Am Ohridsee in Makedonien wurde die kyrillische Schrift erfunden. Die Kleinstadt Ohrid war jahrhundertelang ein kulturelles Zentrum des Slawentums. Heute ist die Stadt beliebter Wochenend-Ausflugsort und bekannt für seine schmackhaften Forellen
von THOMAS SCHMIDT
„Das Wasser ist tiefblau, der Horizont verliert sich im Dunst. Es ist, als ob ein Stück Meer dem Ozean entrissen und zwischen unzugängliche Berge geworfen worden wäre“, meinte einst der Belgrader Biologe Sinisa Stanković. Der Ohridsee, der zu zwei Dritteln in Makedonien und zu einem Drittel in Albanien liegt, war über ein halbes Jahrhundert des Professors bevorzugter Forschungsgegenstand. Dies hat seinen besonderen Grund. Neben dem Tanganjikasee in Afrika und dem Titicacasee in Südamerika gehört er zu den ältesten Seen der Welt. Hier haben sich Pflanzen und Tiere gehalten, die sonst überall ausgestorben sind. Das hat auch für den Touristen Folgen, höchst praktische und angenehme. Nirgendwo anders auf der ganzen Welt wird er die Letnica oder die Belvica (Salmothymus ohridanus) serviert bekommen. Die beiden Arten von Lachsforellen gibt es nur hier – und sie schmecken köstlich.
An den Ohridsee fährt man von Skopje aus in drei Stunden. Wer es eilig hat, kann in der Hauptstadt Makedoniens auch den Flieger besteigen. Doch lohnt sich die Anfahrt durch die makedonischen Berge – sei es nun die Ostroute durch das Vardar-Tal oder eine der beiden Westrouten durch die albanisch besiedelten Gebiete. Wo man auch herkommt, plötzlich tut sich die Sicht auf den ovalförmigen 30 Kilometer langen und 15 Kilometer breiten See auf, der mitten in einer phantastischen Bergwelt in einer Höhe von 695 Meter über dem Meeresspiegel liegt.
Bereits vor 8.000 Jahren müssen Menschen der Schönheit dieser Landschaft erlegen sein. Archäologische Funde weisen darauf hin, dass schon im Neolithikum Leute da siedelten, wo später die antike Stadt Lychnidos lag und wo heute Ohrid liegt, die Stadt, die dem See den Namen gegeben hat. Lychnidos war für die alten Römer von strategischer Bedeutung. Hier führte die Via Egnata durch, die Handelsstraße, die Durres (Albanien) und Saloniki verband und nach Konstantinopel (Istanbul) weiterführte. Von der militärischen Bedeutung des Ortes zeugt auch die mächtige Festung von Samuil, die über der Stadt thront. Es sind zwar nur noch ein großes Tor und die Reste dicker Mauern übrig geblieben. Doch wer den Aufstieg hinter sich hat, wird mit einem einzigartigen Panorama über Stadt, Land und See belohnt. Samuil hatte sich im Jahr 976 gegen die Herrschaft von Byzanz aufgelehnt und zum Zaren ausgerufen. Sein Reich erstreckte sich zeitweilig von der Donau bis zur Adria und bis zum Golf von Korinth. Er herrschte 38 Jahre, bis Basileios II., Kaiser von Byzanz, gegen ihn zu Felde zog und seine Truppen auf dem Schlachtfeld besiegte. Basileios II. war ein grausamer Mann. Er ließ die 14.000 gefangen genommenen Soldaten Samuils alle blenden. Nur jedem hundertsten beließ er ein Auge, damit die Einäugigen die Blinden nach Hause führen konnten. Als Samuil die jämmerlichen Kolonnen seiner geschlagenen und geblendeten Soldaten sah, traf ihn der Schlag. Vier Jahre später war das mittelalterliche makedonische Reich erobert. Oder war es ein bulgarisches Reich gewesen? Immerhin ging Basileios II. als „der Bulgarentöter“ in die Annalen ein.
Bedeutungsvoller als die militärische Niederlage ist der zivilisatorische Impuls, der von Ohrid ausging. Unterhalb der Festung, gleich neben dem Oberen Tor der antiken Stadtmauer, steht eine kleine Kirche mit wunderschönen Fresken in leuchtenden Farben. Es ist die alte Kirche der Muttergottes Peribleptos, die auch Kirche des heiligen Klement heißt, dessen Gebeine hier begraben wurden. Eine Ikone zeigt den Gottesmann mit wallendem Bart, fragend-eindringlichem Blick und einer fast zur Karikatur verzerrten hohen Stirn. Klement, ein Schüler von Kyrill und Method, kam am Ende des 9. Jahrhunderts nach Ohrid, gründete hier ein Priesterseminar, die „Ohrider Schule“, an der die heute im orthodox-slawischen Raum von Montenegro bis Russland gebräuchliche kyrillische Schrift entstand, benannt nach dem „Slawenapostel“ Kyrill, der kein Slawe, sondern Grieche war und nicht die kyrillische, sondern die glagolitische Schrift erfunden hatte. Die „Ohrider Schule“ wurde zu einem Zentrum der Schriftkunde, der Ikonen- und Freskenmalerei, der Literatur und Kultur und strahlte weit in den slawischen Raum aus. Klement selbst wurde der erste slawische Bischof der Ostkirche, deren Hierarchie traditionell griechisch war. Das Bistum von Ohrid wurde in den Rang eines Patriarchats erhoben.
Von der religiösen und kulturellen Blüte Ohrids zeugen etwa drei Dutzend Kirchen in der Stadt und näheren Umgebung. Die größte ist die Kathedrale Hagia Sophia, eine dreischiffige Basilika, mit den ältesten Fresken im Raum des früheren Jugoslawiens, die nur deshalb so gut erhalten sind, weil die Türken, unter deren Herrschaft die Stadt ein halbes Jahrtausend war, sie mit Kalk übermalt hatten, als sie aus der Kirche eine Moschee machten. Die Fresken wurden erst 1955 freigelegt. Nicht so sehr wegen ihrer künstlischen Ausstattung, sondern vor allem wegen ihrer einmaligen Lage ist eine andere Kirche einen Besuch wert.
Die Kirche Johannes des Theologen von Kaneo liegt etwas außerhalb der Altstadt auf einer felsigen Halbinsel hoch über dem See. Wie Wachsoldaten stehen einige Zypressen vor dem Gotteshaus. Durch die alten Gassen gelangt man schließlich zum Korso zurück, der Fußgängerzone mit ihrem Trubel. Es ist ein kurzer Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart.
Die Gegenwart, das sind vor allem tausende von Touristen, die aus Skopje, Bitola, Prilep und andern Städten Makedoniens, aber auch aus Serbien und Albanien am Wochenende an den Ohridsee fahren. Dann wird es schwierig, überhaupt noch eine Unterkunft zu finden. Doch werktags ist es leicht. Wer die Anonymität der Hotels nicht mag, findet leicht ein Privatzimmer in Ohrid oder Pestani, einem Fischerdorf am östlichen Ufer des Sees. Wer noch weiter gegen Süden fährt, stößt just an der Grenze zu Albanien auf ein letztes Hotel. Es ist in einem Teil des Klosters des heiligen Naum, eines Mitstreiters von Klement, untergebracht. Bis in die 20er-Jahre stand das Kloster in Albanien, doch dann schenkte es der albanische König Jugoslawien. In der weihrauchgeschwängerten Kirche hört man den Chorgesang der Mönche, die dem Besucher durch die Ikonostase verborgen bleiben. Auf dem Dach stolzieren zwei Pfauen. Es herrscht eine paradiesische Stille. Unten plätschert ein nur zehn Meter langer, aber vier Meter breiter Fluss, der Schwarze Drim. Er fließt von einem kleinen See, der von 15 überirdischen und 30 Unterwasserquellen gespeist wird, in den Ohridsee. Frischwasserzufuhr für die Letnica und Belvica, die schmackhaften Forellen.
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